Gesellschaft 01. August 2024, von Hans Herrmann

Auf den Spuren der Hippies, die noch keine waren

Kulturgeschichte

Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts lebten auf dem Monte Verità ob Ascona Wahrheitssuchende aller Art in einer progressiven Kolonie. Auf Stippvisite an einem magischen Ort.

Die Hitze ist angenehm trocken und gut erträglich an diesem Dienstag im Juli. Im dürren Laub am Boden verschwindet raschelnd eine Eidechse. Ich sitze allein auf einer Bank am Rand eines kleinen, lauschigen, von dichtem Gebüsch umstandenen Rasenstreifens. Es ist der Vorgarten der Casa Anatta. Die Villa befindet sich auf dem Areal des Monte Verità. Der Hügel ob Ascona am Lago Maggiore ist längst zum Mythos geworden, seit er ab dem Jahr 1900 für zwei Jahrzehnte zum Siedlungsplatz einer Gruppe von Aussteigern, Lebensreformern, Naturisten, modernen Mystikern und Kunstschaffenden geworden war – von jungen Männern und Frauen meist aus dem deutschsprachigen Kulturraum und meist aus gutem Hause, die aus der Bürgerlichkeit ausbrechen wollten.

Ihnen ging es um neue Ansätze, das Leben zu gestalten: Weg von den gesellschaftlichen Normen, dem grassierenden Militarismus, dem Imperialismus und den religiösen Gegebenheiten der damaligen Zeit, hin zur Naturverbundenheit, freien Kreativität, Entfaltung des Individuums.

Bruch mit dem Bestehenden … Auszug auf den heiligen Berg.
Schriftsteller Erich Mühsam

Nichts Geringeres als einen Umbau der Gesellschaft im Geist einer tieferen, universellen Wahrheit strebten die Pionierinnen und Pioniere an. Diesem säkular-spirituellen Vorhaben haftete geradezu etwas Religiöses an, das der Schriftsteller Erich Mühsam – auch er einer der Pioniere – auf diese Kurzformel brachte: «Bruch mit dem Bestehenden … Auszug auf den heiligen Berg.»

Dösend in der Mittagssonne

Im Lauf der Jahre las ich immer mal wieder dies und das über diese Hippie-Kommune avant la lettre, auch den Film «Monte Verità – Der Rausch der Freiheit» von Stefan Jäger aus dem Jahr 2021 habe ich unlängst gesehen. Nun bin ich für einen Nachmittag hergekommen, um die Stimmung dieses besonderen Ortes auf mich einwirken zu lassen.

Ich wusste zwar bereits vor Antritt meiner kleinen Erkundungsreise, dass die Casa Anatta mit dem darin eingerichteten Museum an den zwei ersten Wochentagen jeweils nicht zugänglich ist. Das hinderte mich aber nicht daran, gerade einen Dienstag für meine Tessinfahrt zu wählen. Im Gegenteil: Gerade kleinere Museen haben oft etwas Verengendes, geradezu Einengendes, dem ich mich bei meinem Besuch auf dem legendären «Berg der Wahrheit» gar nicht erst aussetzen will.

So döst denn also das Haus mit heruntergelassenen Rollläden still und einsam in der Mittagssonne vor sich hin. Keine Schritte auf dem Kiesweg, keine Stimmen von Besuchern, nur ab und zu ein Vogelruf aus den alten Bäumen des weitläufigen Parks, der meinen abgeschiedenen Rasenstreifen umgibt.

Der Architekt ist nicht bekannt

Von meiner Sitzbank aus habe ich die Casa Anatta unmittelbar im Blick. Es handelt sich um eine eigentümliche Mischung aus gemütvollem Chalet, herrschaftlicher Villa und progressivem Zweckbau mit klaren Formen und damals hochmodernem Flachdach. Wer das vermutlich 1909 oder 1910 erbaute Haus entworfen hat, ist nicht bekannt. Es war die Wohnstätte der Musikerin Ida Hofmann und des Industriellensohns Henri Oedenkoven, die zusammen mit den Brüdern Karl, Ernst und Gusto Gräser die Kolonie gründeten und leiteten, allerdings nur inoffiziell. Auf Monte Verità kannte man weder Satzungen noch leitende Personen.

Weiter diente die Casa Anatta als Gesellschaftshaus der Kommunität. Hier traf man sich, tauschte sich aus, schmiedete Pläne zur eigenen Erleuchtung und Rettung der Welt.

Auch der spätere Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse gehörte zu denen, die auf den ‹Heiligen Berg› pilgerten und dort innere Klärung zu finden hofften.

In der Stille der Mittagshitze wird die Szenerie vor meinem inneren Auge plötzlich lebendig. Ich sehe sie ein- und ausgehen, die Leute von damals; drei, vier von ihnen sitzen auf dem Mäuerchen, das sich ein paar Meter vor meiner Sitzbank erhebt. Sie debattieren, lachen, schubsen sich kameradschaftlich. Zwei Frauen machen auf dem kleinen Rasenstück Freiluftübungen; ein junger, hagerer, etwas vergrämt wirkender, asketisch blasser Mann, offensichtlich gerade eingetroffen, sieht ihnen dabei fasziniert zu.

Der Neuankömmling, den ich in meiner Fantasie so deutlich sehe, ist Hermann Hesse. Der spätere Literaturnobelpreisträger gehörte ebenfalls zu denen, die auf den «Heiligen Berg» pilgerten und dort innere Klärung und Erhellung, wenn nicht sogar spirituelle Erleuchtung zu finden hofften.

Auch andere klingende Namen aus Kunst, Kultur, Literatur und Gesellschaft verbinden sich mit dem Ort: Hans Arp (Maler, Bildhauer, Lyriker), Sophie Taeuber-Arp (Malerin, Bildhauerin, Architektin, Tänzerin), Isadora Duncan (Ausdruckstänzerin, Choreografin), Ernst Bloch (Philosoph), Paul Klee (Maler), Käthe Kruse (Schauspielerin, Puppenmacherin), Carl Gustav Jung (Psychoanalytiker), Richard Strauss (Komponist). Auch der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer machte 1956 Ferien auf dem Monte Verità, auf dem sich unterdessen ein kommerzieller, noch heute existierender Hotelbetrieb etabliert hatte.

Der einzige Teegarten Europas

Die Mittagsstunde verrinnt im Flug. Von der Sonne leicht betäubt, erhebe ich mich und spaziere gemächlich weiter zur Casa del Tè, vor der sich ein Garten mit sorgfältig gestutzten, hüfthohen Sträuchern ausbreitet. Auf den dunkelgrünen Blättern reflektiert sich matt das Sonnenlicht. Es handelt sich um die erste und immer noch einzige Teeplantage in Europa: Hier werden keine einheimischen Aufgusskräuter wie Minze, Thymian, Salbei und Schlüsselblume kultiviert, sondern richtiger Tee der botanischen Art Camellia sinensis wie in Indien, China und Japan. Das Experiment läuft seit 2006, und das erfolgreich. Die Pflanzen gedeihen, geerntet wird von Frühling bis Spätsommer, und im nahen Pavillon stehen Tees und Teeutensilien zum Verkauf.

Zu bestimmten Zeiten finden hier auch japanische Teezeremonien statt, aber heute haben sich auf dem Sitzplatz hinter dem Teehaus nur ein paar wenige Gäste zu einer Schale Sencha und einer kleinen Plauderei eingefunden. Eine der Teespezialistinnen, ganz in Weiss gekleidet, sitzt auf einer Treppenstufe, isst ein Eis und nickt mir freundlich zu. Ich bin bereits auf dem Weg zu «Laban’s Training Area», wie der Platz auf dem Parkwegweiser angeschrieben ist.

Das Ballett der «Blutten»

Ein paar Minuten nur, und ich stehe auf dem von hohen Laubbäumen und Palmen umfriedeten Wiesenstück, auf dem der Tanzreformer Rudolf von Laban von 1913 bis 1919 jeweils seine legendären Sommerkurse durchführte. Diese Veranstaltungen machten den Monte Verità auch zu einem Zentrum des Ausdruckstanzes. Die neuartige Tanzform, welche die Ausübenden nackt oder nur leichtest bekleidet zu Trommelklängen zelebrierten, wurde von den Einheimischen in lombardischem Dialekt als «Balabiott» bezeichnet – «Blutt-Ballett» beziehungsweise Nackttanz.

Heute kündet nur noch eine Metallskulptur von der künstlerischen Tätigkeit des Tanzmeisters: ein grosses, aus schlanken Metallrohren gefertigtes Ikosaeder. Dieser geometrische Körper ähnelt in der Form einem geschliffenen Edelstein und versinnbildlicht die Bewegungslehre Labans, die sich am Modell des Ikosaeders orientiert.

Am Anfang war der Tanz und nicht das Wort.
Tanzreformer Rudolf von Laban

Eine eigene Magie liegt auf diesem Wiesenstück. Mit etwas Fantasie lässt sich leicht eine sommerliche Szene aus dem, sagen wir mal, Jahr 1915 imaginieren: Rudolf von Laban, antikisch leicht geschürzt, wie er ein Dutzend Elevinnen und Eleven anleitet, sie auffordert, ihrem Bewegungsdrang keine Schranken aufzuerlegen, frisch zu improvisieren und das seelische Erleben des Augenblicks zum Ausdruck zu bringen. Geschmeidig und elegant, aber auch wild und ungezügelt wirbeln die vom Tanz gestählten Körper über die Wiese. «Bravo, weiter so!», ruft Laban begeistert. «Und merkt euch gut: Am Anfang war der Tanz und nicht das Wort.»

Von diesem besonderen Rasenplatz führt ein Fussweg hinein ins Dickicht des Parks. Was hier, im insubrischen, schon fast subtropischen Klima der Tessiner Seen, nicht alles gedeiht: Götterbäume, Robinien, Lebensbäume, Palmen, Kampferbäume, Kamelien, auch vertrautere Bäume wie Föhren und Eiben, dazu Farn und Ranken, alles dicht ineinander verwachsen wie ein veritabler Dschungel. Zum Regenwald-Feeling passt auch der weiche, bei jedem Schritt leicht federnde Boden. Zum Glück gibt es hier keine Tiger und keine Vogelspinnen.

Holzkreuz im Steinmännchen

Auf einmal tut sich der Dschungel auf, sichtbar wird eine nur noch locker bewaldete kleine Anhöhe mit felsiger Kuppe. Hier haben heutige Monte-Verità-Pilger Steinmännchen gestapelt, um diesen besonderen Ort, der für viele wohl ein «Kraftort» ist, zu markieren. Jemand hat in sein Steintürmchen sogar ein christliches Kreuz aus Astholz integriert. Dieser Hügel beziehungsweise Felsen war schon den Pionierinnen und Pionieren ein geweihter Ort: Sie gaben ihm den Namen «Walkürenfelsen», wie eine alte, verwitternde, liegend in den Boden eingelassene Steintafel verrät.

Nicht weit von hier befindet sich ein frisch restaurierter, schlichter Holzbau, eine solide gefertigte Baracke ohne Fenster. Leider ist dieser Pavillon immer nur samstags zu besichtigen, was ich, der ich heute eigentlich keine Ausstellungen zu besuchen beabsichtigte, nun doch etwas bedaure.

Der Bau enthält nämlich ein von Elisàr von Kupffer erschaffenes Rundgemälde, mit dem es eine besondere Bewandtnis hat. Der baltische Künstler, Dichter, Dramatiker und Historiker liess sich 1925 zusammen mit seinem Lebenspartner Eduard von Mayer im nahen Minusio nieder, wo sie das Sanctuarium Artis Elisarion errichteten, einen Weihebau des Klarismus. Der Klarismus war eine von ihnen entwickelte neue Religion, die das Paradies in der sogenannten «Klarwelt» sah, einem jenseitigen Ort, an dem alle Gegensätzlichkeiten – auch die geschlechtlichen – aufgehoben sind.

Auf seinem aus 16 Leinwänden bestehenden, im klassisch römischen Stil gefertigten Rundgemälde «Klarwelt der Seligen» hatte Elisàr von Kupffer dieses Paradies dargestellt. Es zierte einst den Weihesaal des Sanctuariums in Minusio, wurde 1979 aber auf den Monte Verità verlegt und restauriert.

Ein Leben in Licht und Luft

Eindrücke von diesem Werk sind natürlich im Internet abrufbar, aber zu gerne würde ich es jetzt auch in natura sehen, wenn ich schon mal da bin. Doch es lässt sich nun einmal nichts machen, also kehre ich zur labanschen Tanzwiese zurück und entscheide mich dort für einen Pfad, der nach kurzem Fussmarsch zu einer auffälligen kleinen Behausung führt, einem Hüttchen wie im Bilderbuch. Es schmiegt sich an einen Abhang unmittelbar westlich neben dem Teegarten. Diese von den ersten Siedlern 1904 erbaute sogenannte Lichtlufthütte ist die letzte erhaltene ihrer Art und zeigt, wie die Mitglieder der Kolonie in den Anfangszeiten wohnten.

Aus dem weit geöffneten Verandafenster des Holzhäuschens, das bloss zwei kleine Zimmer beherbergt, dringt in einer Endlosschlaufe ab Konserve leise der zweite Satz von Rachmaninoffs Klavierkonzert Nr. 2 nach draussen, eine musikalische Elegie, die nostalgische Gefühle weckt und leise klagend an die alten, längst vergangenen Zeiten des sozialen Aufbruchs auf dem «Berg der Wahrheit» erinnert.

Dieses Hüttchen stellt eine höchst bescheidene, fast archaische Unterkunft dar. In einem deutlichen Kontrast dazu stehen das Hotel und das Restaurant am nordseitigen Rand des Geländes. Das Gebäude entstand 1927 bis 1929 nach Plänen des Architekten Emil Fahrenkamp im Auftrag des deutschen Bankiers und Kunstsammlers Baron Eduard von der Heydt, des letzten privaten Besitzers des Hügelgeländes. Dieser im schmucklosen und funktionalen Bauhaus-Stil errichtete Doppeltrakt wirkt sehr zeitgemäss und verströmt nicht nur die Aura der klassischen Moderne, sondern auch einen Hauch von mediterranem Feriengefühl.

Der ‹Berg der Wahrheit› inspiriert nicht nur spirituelle, sondern auch naturwissenschaftliche Wahrheitssuchende.

Gerade steigt ein älterer Herr aus seinem vor dem Hotel geparkten Auto. Ein anderer, ungefähr gleichaltriger Herr tritt auf ihn zu und begrüsst ihn in amerikanischem Englisch. Einträchtig schreiten die beiden nebeneinander her und verschwinden plaudernd in einem angrenzenden Gebäude.

Den wenigen Gesprächsfetzen lässt sich entnehmen, dass es sich um zwei emeritierte Professoren handelt, der eine aus einem Ort in der Nähe von Washington D.C., der andere aus der Schweiz. Vermutlich ETH-Professoren auf dem Weg zu einer akademischen Tagung, denn die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich betreibt auf dem Monte Verità ein Kongresszentrum. Was zeigt: Der «Berg der Wahrheit» inspiriert nicht nur spirituelle, sondern auch naturwissenschaftliche Wahrheitssuchende.