Es war ein spontaner Griff in den öffentlichen Bücherschrank vor unserer Redaktion im Berner Mattequartier. Ich wollte mir eine kostenlose Wochenendlektüre angeln und blieb inmitten all der bunt aufgemachten Thriller und Krimis an einem alten, unscheinbaren Buch hängen. Der Umschlag fehlte, der gelbe Band war nur am Rücken betitelt mit: «Gebser, Asien lächelt anders». Im Innern dann noch mit Untertitel: «Ein Beitrag zum Verständnis östlicher Wesensart». Erschienen 1968 im Ullstein Verlag.
Eine kulturphilosophische Erörterung über Asien, die vor 55 Jahren entstanden ist, aufgrund einer grossen Asienreise des Verfassers Jean Gebser im Jahr 1961 – dieses Buch machte mich neugierig. Ich packte es in meine Tasche und vertiefte mich am Abend in die Lektüre, die mich sofort in ihren Bann zog. Der Zufall hatte mir eine besondere Preziose zugetragen, die ich auf anderem Weg höchstwahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen hätte.
Gebser, lese ich auf Wikipedia, kam 1905 in Deutschland zur Welt und starb 1973 in Bern. Er war Philosoph, Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer. Sein grosses Thema waren die Bewusstseinsstrukturen der Menschheit und deren Einwirkung auf das kulturelle Schaffen.
Zutreffende Prognose
In diesem Sinn bereiste er auch Asien, indem er versuchte, den asiatischen «Spirit» zu erfassen und diesen dem europäischen Denken und Handeln gegenüberzustellen. Er tat dies aus einem bemerkenswert hellsichtigen Antrieb heraus: «Heute nun müssen wir uns davon Rechenschaft ablegen, dass Asien, vor allem China und in seinem Gefolge Japan und Indien, auf dem Wege sind, innerhalb der nächsten Jahrzehnte Weltmächte zu werden. Wenn es uns bis dahin nicht gelingen sollte, ein vorurteilsloses [...] Verständnis für Asien aufzubringen, so werden wir uns mit ihm nicht ins Benehmen setzen können», schrieb er vor nunmehr 55 Jahren.