Eine Geschichte von Freiheit und Widerstand

Waldenser

In Torre Pellice erinnern historische Stätten an den Freiheitskampf der protestantischen Waldenser. In der Kleinstadt im Piemont widersetzten sie dem Faschismus. 

Jetzt, mitten im Sommer, steht das Schulhaus der Waldenser leer. Es sind Ferien, und auch sonst ist auf den ersten Blick nicht viel los in Torre Pellice. Ein paar Touristen sind da, denn die italienische Kleinstadt in den Cottischen Alpen, in der Grenzregion zwischen Italien und Frankreich, bietet einen guten Ausgangspunkt zum Wandern. 

Die Berge bieten Schutz 

Wo heute Wanderer ihren Routen folgen, versteckten sich im Zweiten Weltkrieg Partisanen. Aus den Alpentälern Val Chisone, Valle Germanasca sowie Val Pellice stammen viele Kämpfer, die den italienischen Faschisten und deutschen Nationalsozialisten die Stirn boten. Und den Waldensern, den Angehörigen der protestantischen Kirche in Italien, boten die  chwer zugänglichen Täler schon im 16. Jahrhundert Schutz vor Verfolgung.

Einer der ehemaligen Partisanen ist Giulio Giordano oder «Giulietto», wie die meisten hier in Torre Pellice den kleinen Mann nennen. Die Stimme des 99-Jährigen wird laut, wenn er von den Schicksalen seiner Kameraden erzählt, an deren Seite er vor 80 Jahren kämpfte. 

Autonome wollten Monarchie wiederherstellen

Giordano gehörte zur Partisanengruppe «Giustizia e Libertà». Diese setzte sich vor allem aus Studenten und Mitgliedern der Waldenserkirche zusammen. Die «Garibaldini», eine zweite Gruppe, stand der kommunistischen Partei nahe und hatte hauptsächlich Mitglieder aus dem Arbeitermilieu. Und die dritte Gruppe, das waren die Autonomen. Sie wollten die Monarchie wiederherstellen. 

Der reiche Kaufmann, der alles verkaufte

Die Reformation, die Erneuerungsbewegung der Kirche, begann ab 1517 mit dem Wirken des deutschen Augus­tinermönchs Martin Luther. Bereits Generationen vor ihm gab es jedoch Gläubige, die sich von der offiziellen katholischen Kirche distanzierten. 

Sie riefen Bewegungen ins Leben, die reformatorische Grundsätze bereits vor der historischen Reformation lehrten und lebten. Einer dieser sogenannten Vorreformatoren war der reiche Kaufmann Petrus Valdes (1140–1217) aus Lyon. Seine Bibellektüre animierte ihn dazu, seine Habe zu verkaufen und fortan als armer Laienprediger zu wirken. Um das Evangelium den Menschen direkt zugänglich zu machen, liess er es teilweise in die Volkssprache übersetzen. 

Er hatte zahlreiche Anhänger, die man in Anlehnung an seinen Namen Waldenser nannte – und immer noch nennt. Die Gemeinschaft, die das Papsttum ablehnte, breitete sich trotz Verfolgung aus, vor allem in Frankreich und Italien. Nach 1530 schlossen sich die Waldenser der Reformation an. Ihr geografisches Zentrum sind heute mehrere Alpentäler westlich von Turin. heb

Die Gruppe «Giustiza e Libertà» traf sich im Collegio Valdese, dem Schulhaus der Waldenser. Die Chefs dieser Gruppe waren der Waldenserpfarrer Francesco Lo Bue und der Lehrer Jacopo Lombardini. Letzterer wurde 1944 mit vielen anderen von den deutschen Nationalsozialisten im Konzentrationslager Maut­hausen umgebracht. 

Langer Kampf um Freiheit 

Die kleine Kirche oberhalb der Stadtgrenze von Torre Pellice ist Zeugin einer Geschichte, die während Jahrhunderten vom Ringen um Freiheit geprägt war. Damals durften sich die Waldenser nur in einem vorgeschriebenen Bereich ausserhalb der Stadt aufhalten. Dagegen steht der Tempio Nuovo, die grosse, 1852 eingeweihte Kirche, mitten in Torre Pellice. Nach wie vor finden aber auch in der kleinen Kirche regelmässig Gottesdienste statt. 

Der Tempio Nuovo und seine angrenzenden Gebäude bilden heute das Zentrum der Waldenserkirche, der Chiesa Evangelica Valdese. Die Casa Valdese, in der jährlich die Synode mit Mitgliedern aus ganz Italien tagt, steht hier. Daneben reihen sich, im ansonsten unspektakulären Städtchen mit seinen ungefähr 4500 Einwohnern, hübsche Häuser ehemaliger Lehrer und Pfarrer, ein Museum und das Schulhaus. 

Die ‹resistenza› war kein Kampf der Kirche als Institution, wohl aber einer ihrer Mitglieder.
Davide Rosso, Direktor der waldensischen Stiftung

An diesem Sonntag predigt Pastor Michel Charbonnier im Tempio Nuovo. 80 Menschen sind gekommen, 1200 Mitglieder zählt die Gemeinde insgesamt. Damit ist sie eine der grössten in Italien. Charbonnier selbst kommt aus dem Nachbarort. 

«Viele bezeichnen sich als Waldenser, weil sie hier geboren sind. Auch wenn sie keinen Kontakt mehr zur Kirche haben», sagt der 45-Jährige nach dem Gottesdienst. Italien ist überwiegend katholisch, nur in den Alpentälern des Piemont gibt es ungefähr gleich viele Protestanten wie Katholiken. 

Für Pfarrer Charbonnier ist es kein Zufall, dass hier, wo sich die Waldenser fast wie eine Volkskirche fühlen, der Widerstand gegen die Besatzer stark war. Denn bereits die ersten wegen ihres Glaubens verfolgten Waldenser mussten sich gegen eine Übermacht wehren. 

Kritische Distanz zur Kirche 

Giulio Giordano jedoch, der alte Partisane, hält zu seiner Kirche seit 1943 Distanz. Er wirft ihr vor, sich damals nicht deutlich genug gegen den Faschismus gewandt zu haben. «In den 18 Monaten des Widerstands ist ausser Pastor Lo Bue kein Geistlicher in mein Haus gekommen. Sie hatten alle Angst.»

Davide Rosso, Direktor der waldensischen Stiftung, relativiert: Damals seien Pfarrer direkt aus der Versammlung heraus in die Berge gegangen, um an der Seite der «partigiani» zu kämpfen. «Die ‹resistenza› war kein Kampf der Kirche als Institution, wohl aber einer ihrer Mitglieder.»