Reisen und Religion sind verwandt

Kirche und Tourismus

Spiritualität spielt im Tourismus von jeher eine wichtige Rolle. Anna-Lena Jahn und Christian Cebulj möchten nun die Akteure von Religion und Tourismus stärker vernetzen.

Suchen Sie während Ihrer Ferien auch gern Kirchen auf?

Christian Cebulj: Ja, sicher. Meine letzten Ferien verbrachte ich in Ungarn, wo ich eine romanische Kirche in Pécs besuchte. Die Touristen kamen aus den Nachbarländern. Wir verstanden uns zwar sprachlich nicht, aber das gemeinsame Wissen um die Bedeutung des Gebäudes einte uns.
Anna-Lena Jahn: In Kopenhagen besuchte ich eine Kirche nahe der Marienburg. Mir gefiel der Hinweis am Eingang, das Handy wegzustecken und die Ruhe zu geniessen.

Im Kern sei Gastfreundschaft «die Liebe zum Fremden», sagt David Schimmel von der Frankfurt CityChurch mit Verweis auf den Römerbrief: «An den Bedürfnissen der Heiligen nehmt teil; nach Gastfreundschaft trachtet» (Röm 12,13).

Cebulj: Besser gefällt mir persönlich die Stelle im Hebräerbrief 3,13: «Pflegt immer die Gastfreundschaft, denn manche haben Engel beherbergt, ohne es zu wissen.» Die Gäste waren also jene, die etwas Neues brachten, und wurden dann mit Engeln verglichen. Diese Haltung praktizieren Mönche seit Jahrhunderten, weil es so in der Bibel steht und zur christlichen Kultur gehört. Im Tourismus geht es jedoch nicht nur um Gastfreundschaft, sondern auch um Gastlichkeit.

Wo liegt der Unterschied?

Cebulj: Die Gastfreundschaft – die übrigens auch im Islam und im Judentum heilig ist – hat einen engen Bezug zur christlichen Barmherzigkeit. Doch irgendwann entwickelte sich Gastfreundschaft zu einem Geschäft. Gastlichkeit beinhaltet Gastfreundschaft als Haltung, aber die Hotellerie ist heute ein Dienstleistungssektor, mit dem Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen und der in der Schweiz massgeblich zur Wertschöpfung beiträgt.

Anna-Lena Jahn, 27

Die Doktorandin aus Herzogenbuchsee studierte in Berlin Tourismus und Eventmanagement und absolvierte in Zürich den Masterstudiengang Religion–Wirtschaft–Politik. Sie ist Mitarbeiterin des Forschungsprojekts «Religion – Kultur – Tourismus». Im Rahmen ihrer Doktorarbeit beschäftigt sie sich mit dem Benediktinerinnenkloster St. Johann in Müstair.

Christian Cebulj, 60

Der gebürtige Allgäuer hat einen Lehrstuhl für Religionspädagogik und Katechetik an der Theologischen Hochschule in Chur, deren Prorektor er auch ist. Cebulj studierte katholische Theologie in Augsburg, Paris und in München. Gegenwärtig ist er auch Leiter des Forschungsprojekts «Religion – Kultur – Tourismus», das noch bis Ende 2025 läuft.

Liegen auch die Ursprünge des Tourismus in den Religionen? 

Jahn: Die frühesten Formen des Reisens entspringen vermutlich dem religiösen Bedürfnis zu pilgern. Der Begriff Tourismus leitet sich jedoch ab von der Grand Tour, also der «grossen Reise»: Im 16. und 17. Jahrhundert schickten reiche Familien ihren Nachwuchs auf Bildungsreisen. Das bürgerliche Bildungsideal ging davon aus, dass das «Gute, Wahre und Schöne» analoge Kräfte in der Seele ausbilde. Das Christentum hatte Einfluss, oft war das Heilige Land, also das heutige Israel und Palästina, ein Ziel.
Cebulj: Am Anfang war das Fernweh. Die ältesten Erzählungen der europäischen Kultur sind Reisegeschichten: das Gilgamesch-Epos aus dem Irak, die griechische Odyssee oder auch die römische Aeneis. Die Handlung ist in allen Epen ähnlich: Ihre Helden reisen bis ans Ende der Welt, damit das Gute siegt. Es gibt in den Erzählungen immer das Motiv der Erlösung. Dadurch sind Religion und Reisen ideengeschichtlich miteinander verwandt. Die Apostelgeschichte erzählt von Paulus, der unterwegs war, um christliche Gemeinden zu gründen. Er hatte einen missionarischen Antrieb, mit dem wir heute vorsichtig umgehen.

Warum?

Cebulj: Weil Gastlichkeit ein Selbstzweck ist und nicht vereinnahmend sein darf. Ich kann von meiner religiösen Überzeugung erzählen, beim Wein am Abend, aber es darf nicht das einzige Motiv sein. Im Kapitel über die Gastfreundschaft in der Benediktinerregel heisst es, dass man immer gastfreundlich sein soll, weil man die Gäste wie Christus selbst aufnehmen soll.

Verantwortliche sollten Kirchen, Kathedralen und Klöster noch besser zugänglich machen, nicht nur für Kirchenmitglieder. Es braucht hierbei ein Umdenken, was in einigen Kantonen auch geschieht.
Anna-Lena Jahn

Gibt es deshalb noch wenig Kooperationen zwischen Kirchen und Tourismusorganisationen?

Cebulj: Tatsächlich sind viele der Kolleginnen und Kollegen aus dem Tourismus eher vorsichtig bei der ersten Kontaktaufnahme. Ich erkläre ihnen dann, dass es uns nicht ums Missionieren geht, sondern um Regionalentwicklung.

Was heisst das konkret? 

Jahn: Aus der Forschung wissen wir, dass die Wissenskultur einer der gesellschaftlichen Megatrends ist. Kirchenbauten sind Kulturgüter und als solche wertvoll für die touristische Nutzung einer Region. Deshalb besuchen Menschen Kirchen, Kathedralen und Klöster. Diese sollten Kirchenverantwortliche noch besser zugänglich machen, nicht nur für Kirchenmitglieder. Es braucht hierbei ein Umdenken, was in einigen Kantonen auch geschieht. Graubünden nimmt dabei eine Pionierrolle ein, und dies gemeinsam mit der reformierten landeskirchlichen Fachstelle Kirche im Tourismus.
Cebulj: Auch das Bündner Projekt einer Autobahnkapelle in Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro Herzog & de Meuron ist einzigartig in der Schweiz und zeigt, dass die Kirchen dem Tourismus drei besondere Stärken zu bieten haben: Räume, Ruhe, Rituale. In diesen Bereichen haben die Kirchen eine Kompetenz, die sie stärker ausspielen dürfen als bisher. Kirchen haben nicht nur einen gemeinschaftsfördernden, diakonischen Auftrag, sondern auch einen Bildungsauftrag. Den sollten wir nicht allein im Religions- und Konfirmandenunterricht wahrnehmen. Die Zahlen des europäischen Tourismusverbands zeigen, dass zu den zehn beliebtesten Sehenswürdigkeiten Europas fünf Kirchen gehören: die Sagrada Familia in Barcelona, der Petersdom in Rom, der Mailänder Dom, Notre-Dame de Paris sowie der Kölner Dom.

Wenn wir die Menschen in den Mittelpunkt stellen wollen, dann sind Reisende eine gesellschaftlich relevante Gruppe, denen gegenüber die Kirchen einen kulturdiakonischen Auftrag haben.
Christian Cebulj

Vor einigen Jahren wurden die Tourismuskommissionen der Reformierten und der Katholiken auf nationaler Ebene sistiert. Ist ihnen das Thema zu wenig wichtig? 

Cebulj: Im Christentum stehen Menschen im Mittelpunkt. Reisen ist eine Form des Menschseins. Wenn wir die Menschen in den Mittelpunkt stellen wollen, dann sind Reisende eine gesellschaftlich relevante Gruppe, denen gegenüber die Kirchen einen kulturdiakonischen Auftrag haben. Denn es sind viele, und sie können uns nicht egal sein. Seitens der Kirchen fehlt aber oft das Personal. Die Kirchen beschäftigen sich im Moment stark mit den eigenen Strukturen, Missbrauchsfällen und Austrittszahlen. Aber jetzt zitiere ich Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist aus Zürich: «Am Sonntag haben 50 den Gottesdienst besucht, am Montag kommen 400 als Touristen.» Das sind alles Menschen.

Was genau erforschen Sie mit dem Projekt «Religion – Kultur – Tourismus»?

Cebulj: Wir erforschen die Religion als Phänomen im Tourismus. Wenn Menschen in den Ferien Klöster und Kathedralen besuchen, spielt neben Architektur und Kunst auch die Religion als Bildungsgegenstand eine Rolle. Ich kann eine gotische oder barocke Kirche nicht verstehen, ohne etwas über Religion zu lernen. Früher war Religion ein Lebensstil, heute ist sie eine Option.

Anders gesagt: Die Menschen sind weniger religiös, oder?

Cebulj: Nein – sie haben aber eine andere religiöse Praxis. Der Theologe Kristian Fechtner nennt das «milde Religiosität». Die Leute pflegen eine lose Beziehung zu den Kirchen als Institutionen, aber sie interessieren sich durchaus für Religion und Spiritualität. Wenn wir unsere Perspektive ändern und diese Menschen verstärkt ansprechen, wäre das ein wichtiger Teil unseres Bildungsauftrags als Kirchen.
Jahn: In meiner Dissertation, die Teil des Forschungsprojekts ist, interessiert mich, wie Touristinnen und Touristen aus unterschiedlichen Kontexten subjektiv Kirchenräume wahrnehmen. Und in einem weiteren Schritt gehe ich der Frage nach, ob es dabei auch eine interreligiöse Auseinandersetzung gibt.

Vom Tourismus können die Kirchen lernen, Trends in ihre Arbeit einzubeziehen.
Anna-Lena Jahn

Kann Tourismus den interreligiösen Dialog fördern?

Jahn: Ja, ich denke schon. Das ist eine Frage, die ich jedenfalls in meine Dissertation einbetten möchte. Mich interessiert, ob das nur eine Wunschvorstellung ist. Immerhin hat UN Tourism, also die Weltorganisation für Tourismus, in ihrem Ethikkodex einen Artikel, der genau das festhält.

Wie könnte der interreligiöse Dialog denn gefördert werden?

Jahn: Es gibt auf europäischer Ebene das Netzwerk Future for Religious Heritage in Europe, dem auch die Theologische Hochschule Chur beigetreten ist. In Kooperation mit Denkmalschützern und Kirchenvertreterinnen werden Lernmöglichkeiten zur interreligiösen Verständigung geschaffen. Ein Beispiel sind die Religionswege wie der Muslim Heritage Path Great Britain, den ein islamischer Theologe entworfen hat. Touristen durchqueren London und stossen auf Stationen muslimischer Menschen, die sich in England verdient gemacht haben. Verständigung geschieht ebenfalls auf dem Lauren­tiusweg im Baltikum. Anhand der Geschichte des heiligen Laurentius werden historische Konflikte reflektiert und gegenwärtige Lösungsansätze beschrieben.

Was können Kirchen vom Tourismus lernen und umgekehrt?

Jahn: Vom Tourismus können die Kirchen lernen, Trends in ihre Arbeit einzubeziehen. Trends erzeugen auch Gegentrends. Der Tourismus kann in Kooperation mit den Kirchen besser darauf reagieren.
Cebulj: Wenn Wertschätzung und Wertschöpfung sich ergänzen, bedeutet dies für beide eine Win-win-Situation.