Eigentlich ist es immer noch ein Wunder. Ein reformiertes Wunder. Die Lancierung der Zeitung «reformiert.» vor nunmehr sieben Jahren. Welcher gesellschaftliche Player leistet sich das schon: eine Publikation mit einer unabhängigen Redaktion, die auch der Institution, die sie finanziert, kritische Fragen stellen darf – ja, laut Redaktionsstatut, stellen muss? Die Migros will sich im «Migros-Magazin» nicht kritisieren lassen, die Bundesämter und Bundesdirektionen von Buwal bis Deza wollen in ihren Publikationen nichts über Widersprüche in den eigenen Reihen lesen. Aber die reformierten Kirchen Aargau, Bern, Graubünden und Zürich – im Kanton Bern präziser die Kirchgemeinden – leisten sich «reformiert.». Eine Zeitung, die vieles darf, nur eines nicht: «His Master’s Voice» sein.
Die Debatte. Eine Zeitung, die vielmehr in der heissen Debatte über das zukünftige Verhältnis von Kirche und Staat im Kanton Bern auch Kirchenkritiker und Trennungsbefürworter zu Wort kommen lässt. Eine Zeitung, die, wiewohl evangelisch-reformiert, vor Atheisten nicht zurückschreckt – und auch Theologinnen die Gretchenfrage stellt. Kurz: Eine Zeitung, die die Debatte sucht und anfacht. Eine Zeitung, die nicht PR für die Kirche macht – und gerade deshalb beste PR für die Kirche ist. Und die wohl darum ihre Auflage in den vergangenen sechs Jahren im Bernbiet markant von 275 000 auf 321 000 Exemplare steigern konnte. – Genug der Werbung. Denn «reformiert.» ist nicht für alle Zeiten gemacht – muss jeden Monat als unabhängige, gut recherchierte, attraktive Zeitung neu erfunden werden. Heute braucht es dazu Redaktoren, die den Zusammenhang zwischen Antisemitismus, Islamophobie und Fremdenhass aufdecken. Redaktorinnen, die wissen, dass es im «Krieg gegen den Terrorismus» auch um westliches Vormachtstreben und Bodenschätze geht. Redaktoren, die recherchieren, was es heisst, als Sans-Papiers im Versteckten zu leben oder als Fünfzigjährige keine Arbeit mehr zu finden. Kurz: eine Redaktion, die das Evangelium beim Wort nimmt, das ja zunächst den Bedrängten gilt.
Die Falle. Das kann «reformiert.» nur, wenn die Redaktion nicht in die Falle tappt, in der die Kirche derzeit steckt. Die Falle der Strukturdebatten, der Sparprogramme, der Nabelschau. Keine Frage, die Kirchen stehen unter Druck – und müssen darauf reagieren. Keine Frage, die evangelisch-reformierte Monatszeitung hat darüber zu berichten. Aber eine Kirche, die nun seit Jahren schon fasziniert und blockiert über ein reformiertes «Bischofsamt» diskutiert, ist eine Insiderkirche, keine Volkskirche mehr. «reformiert.» muss auch darüber kritisch schreiben – und kann das nur, wenn sich die Redaktion getragen weiss von Leserinnen, die ihr die Treue halten und mit Zuschriften die Debatte weitertreiben.
Und nicht zuletzt braucht «reformiert.» eine selbstbewusste Kirchenleitung, einen Synodalrat, der in reformiert-demokratischer Gesinnung gelassen die Tatsache schluckt, dass nicht er «reformiert.» besitzt. Einen Synodalrat wie jener, der 1985 dem «saemann», dem Vorgänger von «reformiert.», augenzwinkernd zum 100-Jahr-Jubiläum mit den Worten gratulierte: «Es ist mir nicht erlaubt, Dich zu prügeln, denn Du gehörst gar nicht mir! Du gehörst vielmehr einem Verein, dem jene Kirchgemeinden angehören, die Dich als Gemeindeblatt halten. Manchmal bin ich froh, dass das so ist. Du hast so ein wenig Narrenfreiheit. Aber wenn eine Nummer so richtig gut ist, dann reut es mich fast ein wenig, dass ich nicht sagen kann: Der gehört mir!»
Die Perle. Bleiben sich alle bewusst, dass «reformiert.» eine Perle evangelischer Publizistik ist, und tragen sie Sorge zu ihr, dann kommt es gut mit dem reformierten Wunder von Bern. Und wir Leserinnen und Leser, zu denen ich nun nach sechzehn Jahren Arbeit als Redaktor rüberwechsle, haben Monat für Monat eine Zeitung im Briefkasten, die auffällt im Blätterwald – als mutiger, pfiffiger Sonderling.
