«Das Weltall wirkt wie Samt durchstochen von LEDs»

Der andere Blick

Die Distanz zur Erde bringt neue Erkenntnisse über Erde und Universum. Der deutsche Astronaut Reinhold Ewald spricht über den menschlichen Fussabdruck und biblische Momente im All.

Können Sie sich an den Moment erinnern, als Sie erstmals die Erde vom Weltraum aus gesehen haben?

Reinhold Ewald: In den ersten Stunden auf dem Flug ist man recht anfällig für die Weltraumkrankheit. Wenn man die Erde da irgendwo hän­­gen sieht, wird einem schnell schlecht. Aber mir ging es gut, und so habe ich doch einen Blick gewagt. Das Erste, was ich sah, war der Pazifik, ein überwältigender Anblick, man kann sich daran kaum satt sehen. Wolken und Wasser. Aber in der Sojuskapsel sind die Fenster klein, man dreht sich, sie ist für Erd­­beobachtung nicht gut geeignet. Erst auf der Mir hatte ich Musse zu beobachten. Da muss man aber auch immer vorausdenken, was will ich sehen? Durch die Erdrotation ziehen die Kontinente vorbei und sind bald wieder verschwunden.

Wie war der Blick von der Raumstation aus?

Als Astronaut ist die Zeit für Reflexion begrenzt. 99 Prozent der Zeit an Bord erfüllt man Pflichten, führt Experimente durch. Und ich machte den Fehler, viel aus dem Fenster hinaus zu filmen, ich hätte mehr mit dem blossen Auge schauen sollen. Besondere Augenblicke ergaben sich im­mer dann, wenn ich die Kamera weglegte. Etwa beim Betrachten der Polarlichter, die sich oh­nehin nicht filmen liessen.  Momen­te wie diese haben wir Astronauten miteinander ge­teilt. Wir versammel­ten uns am Fenster, um die Vorhänge von Licht, die Atmosphärener­schei­nun­gen, zu betrachten. Das war eine einmalige Perspektive.

Es heisst, Sie haben sich Musik für die Erdbeobachtung mitgenommen.

Ja, das stimmt. Ich hatte damals ­eine 90-minütige Kassette dabei, so lange dauerte eine Erdumrundung. Und auf diese Kassette hatte ich Mu­sik aufgenommen, die zu den jeweiligen Regionen, die wir überflogen, passten. Mozart für Europa, Boro­din für Asien, aber auch die kölsche Mund­artgruppe Bläck Fööss war da­bei. Die Musik hat mir geholfen abzuschalten. Was hingegen die Beobachtungen angeht: Noch eindrück­licher als der Blick auf die Erde war der Blick ins All.

Inwiefern? 

Die Erdblicke sind faszinierend, aber durch Filme und Erzählungen erfassbarer. Der Blick ins Weltall ist einmalig, völlig anders als der Nacht­himmel, den wir von der Erde aus sehen, dort ist ja immer die Atmos­phäre dazwischen. Von der Raum­station aus aber wirkt das Weltall wie schwarzer Samt, durchstochen von leuchtenden LEDs. Die Sterne sind viel heller, intensiver, und man sieht eine viel grössere Menge.

Was löst der Blick ins Weltall aus?

Man wird bescheiden, fühlt sich kleiner und konzentriert sich mehr auf die Dinge, die man beeinflussen kann. Ich bin nicht zum grünen Papst geworden, begehe auch Umweltsünden wie Autofahren. Aber der Blick ins All zeigt, es gibt viel mehr unbewohnbaren Lebensraum draussen als Lebensraum hier, um den wir uns deshalb arg kümmern müssen. Auch biblische Bezüge kom­men einem in den Sinn.

Zum Beispiel?

Als die Astronauten von «Apollo 8» den Mond umrundet hatten und die Erde über der Mondoberfläche aufging, lasen sie aus dem Buch Genesis. Ob man bibeltreu ist oder nicht, da stehen tolle Sätze drin. Wie Licht und Dunkel voneinander getrennt werden, oder Land und Wasser. Die­se Beschreibungen hat man plastisch vor Augen, wenn man auf die felsigen Küstenlinien im arabischen Raum zufliegt. Oder wenn man in einem Moment Sonne im Raumschiff hat und in der nächsten Sekunde ist es stockdunkel. 

Der Glaube und die Wissenschaft, wie geht das für Sie zusammen?

Ich bin von der Erziehung her im besten Sinne rheinischer Katholik. Messdiener und Erstkommu­nion, das volle römisch-katholische Programm. Es gab eine Phase in meinem Leben, da musste ich für mich Schöpfungsgeschichte und Physik miteinander versöhnen. Ich war schon sehr erleichtert, als Papst Johannes Paul II. Galileo Galilei rehabilitierte. In Köln hielt er 1980 eine Ansprache vor Wissenschaftlern, da war ich dabei. Irgendwann hat man dann Kinder und muss sich fragen, wie man ihnen den Glauben vermittelt, wohinter man als Vater steht. Ich bin der Kirche hier verbunden, vor allem auf karitativer Ebene. Und ich war und bin auch in der ein oder anderen kirchlichen Organisation aktiv. Zur Institution halte ich kritische Distanz, insbesondere bis die Frage des Umgangs mit den Missbrauchsbeschuldigungen geklärt ist.

Die Bewahrung der Schöpfung wird für viele Astronauten zu einem wichtigen The­ma. Alexander Gerst etwa do­ku­men­tierte vor zwei Jahren eindrücklich die Schäden, die der Kli­mawandel anrichtet. Erkennt man die Dringlichkeit aus der Distanz besser?

Ja, dieses Anliegen haben alle Astronauten gemeinsam. Die 90-minütige Umrundung zeigt, die Erde ist zwar gross und die Atmosphäre voluminös, aber nicht unbegrenzt. Auch weiträumige Zusammenhänge werden sichtbar. Meeresströmun­gen, die man eine halbe Stunde lang beim Überfliegen des Pazifiks beobachten kann. Oder Sahara-Sand, der quer über den Atlantik nach Amerika geweht wird. Man sieht, wie sich die unterschiedlichen Wetterge­sche­­hen gegenseitig beein­flussen, dass das, was auf der einen Seite der Welt passiert, für die andere auch von Bedeutung ist. Noch eindrücklicher erleben das die Mond­fahrer.

Warum?

Sieht man die Erde als blaue Murmel im Weltall, kommt man zu der Einsicht, dass die Erde unser Raumschiff ist, und zwar unser bestes. Denn nur mit sehr grosser Mühe können wir eine kleine künstliche Umwelt um uns schaffen. Auf der Erde haben wir es ungleich leichter, wir haben bereits eine angenehme Atmosphäre und passende Umgebung für viele.

Inwiefern hat Sie diese Erfahrung als Mensch und auch als Wissenschaftler verändert?

Sie sprechen mit einem Rheinländer, wir nehmen vieles mit Humor, sind bodenständig. Als Physiker ge­rate ich auch nicht in Ekstase wegen eines ästhetischen Moments. Ver­ändert hat sich vor allem das, was ich den Menschen erzähle. Seit meinem Flug rede ich jetzt aus Erfahrung und Überzeugung. Das hilft mir bei meiner Lehrtätigkeit und bei Vorträgen.

Wie lautet die häufigste Frage?

Wie man im All auf die Toilette geht, das kommt meistens. Aber es gibt auch interessante Fragen. Ein junger Mann fragte etwa: «Haben Sie den Eindruck, den Weltraum ero­bert zu haben, oder fühlten Sie sich dort als Gast?»

Was war Ihre Antwort?

Das ist keine Eroberung, allenfalls ein Ankratzen. Wir beginnen wie die Polarforscher, die auch nicht alle Risiken minimieren konnten, als sie ihren Fuss auf den Kontinent setzten. Aber die Frage ist interessant, denn wir sollten darüber nach­denken, welchen Fussabdruck wir im All hinterlassen wollen. Sind wir so ignorant wie die Eroberer anderer Kontinente in vorherigen Jahrhunderten, oder müssen wir behutsam vorgehen? Beim Mars etwa ganz vorsichtig schauen, ob dort Pro­to­leben entstanden ist, dessen Spuren man zerstören könnte.

Von Juri Gagarin ist das Zitat überliefert, er habe Gott im Weltraum nicht gesehen. Mittlerweile hat sich herausgestellt, es handelte sich dabei wohl um Sowjetpropaganda. Wie präsent war Gott für Sie?

Also gesehen habe ich ihn auch nicht (lacht). Es ist ja nicht so, dass man einen Vorhang aufmacht, und dann sieht man da das Räderwerk und einen bärtigen Greis, der es aufzieht. Gottes Präsenz spüre ich unabhängig vom Raumflug.

Dennoch gab es auch eine extrem brenzlige Situation.

Ja, das stimmt. Am 14. Tag an Bord der Mir geriet eine Sauerstoffkerze in Brand. Man trainiert für so etwas, aber glaubt nicht ernsthaft, dass es eintritt. Es war ein Schock. Für einen Moment schien es, als müssten wir fliehen, die Raumstation vorzeitig verlassen, ohne wissenschaftliche Resultate. Es gelang uns aber, den Brand zu löschen. Da habe ich schon ein Stossgebet in den Himmel geschickt. Und als es dann gut ausging, haben wir auch gesagt: Wir danken.

War Religion Thema auf der Mir?

Russland hatte damals über 80 Jahre Säkularisierung und Unterdrückung von gelebter Religion hinter sich. Da kann man nicht erwarten, dass Gott zum Gesprächsthema wird. Aber auf der Mir hing eine Ikone. Und über die hat sich zumindest nie­mand beschwert.

Reinhold Ewald, 64

Reinhold Ewald, 64

Der promovierte Physiker aus Mönchen­gladbach wurde 1990 ins deutsche Astronautenteam berufen. 1997 flog er für 19 Tage zur Weltraumsta­tion Mir. Dort führte er Experimente durch, etwa wie sich die Schwerelosigkeit auf den Körper auswirkt. Nach der Rückkehr war er als Betriebsleiter für die Bodenunterstützung der Flüge von ESA-Astronauten zur ISS zuständig. Derzeit ist er Professor für Astronautik und Raumstationen an der Universität Stuttgart. Als virtuellen Hintergrund für das Zoom-Interview wählte Ewald die «goldene Schallplatte»: ein Speichermedium mit Informationen für Ausserirdische, das die ­Nasa 1977 an Bord zweier Voyager-Sonden ins All schickte.