«Wir Christen dürfen die Hoffnung nicht aufgeben»

Friedensprojekt

Die christliche Palästinenserfamilie Nassar betreibt im Westjordanland ein Friedensprojekt. Leiter Daoud Nassar berichtet von der Arbeit angesichts der prekären politischen Lage.

Daoud Nassar, die politische Situation in Nahost ist derzeit äusserst angespannt. Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie in dieser Zeit?

Daoud Nassar: Den Umständen entsprechend geht es uns gut. Die Situation im Westjordanland, dem von Israel besetzten palästinensischen Gebiet, ist sehr schwierig. Wir betreiben unseren Landwirtschaftsbetrieb als Friedensprojekt unter dem Titel «Tent of Nations» auf unserem eigenen Land (siehe Box). Seit dem 7. Oktober 2023 hindern uns die israelische Armee und Siedler daran, den östlichen Teil unseres Landes zu bearbeiten. 

Warum?

Sie geben Sicherheits- oder militärische Gründe an. Doch sie wollen unter diesen Vorwänden eigentlich nur die Palästinenser daran hindern, auf dem eigenen Land zu arbeiten. Auch die direkte Strasse, die zu unserem Gelände führt, darf aktuell nicht befahren werden. Zudem begannen die Siedler im März, eine Strasse quer durch unser Land zu bauen. Eine weitere Strasse bauen sie direkt entlang unseres Landes und, ebenfalls auf unserem Land, eine dritte vom Tal auf den Hügel, wo unsere Farm steht.

Das Tent of Nations – Zelt der Völker

Vor über 100 Jahren kaufte die Familie Nassar ein 42 Hektar grosses Gelände auf einem Hügel südwestlich von Bethlehem, wie es auf der Website des Tent of Nations heisst. Zwei Dokumente aus den Jahren 1924 und 1925 belegen den Besitz. Seither hat die Familie Nassar das Land kontinuierlich bewirtschaftet. 1991 erklärten die israelischen Behörden den Hof der Familie Nassar und das umliegende Gebiet zum «Staatsland». Seitdem hat die Familie Nassar ihr Land vor dem israelischen Militärgericht und den Obersten Gerichten gegen den Abriss von landwirtschaftlichen Gebäuden, Wasserzisternen und Zelten sowie gegen die völlige Enteignung verteidigt.

Angriffe auf dem eigenen Land

Im Jahr 2007 entschied der Oberste Gerichtshof Israels, dass die Nassars mit der von Israel geforderten Neuregistrierung ihres Landes beginnen können. Seitdem wurde der Prozess wiederholt von Israel verzögert, so dass die Nassars gezwungen waren, ihn mehrmals neu zu starten. Aufgrund der langen Verzögerung bei der Neuregistrierung war die Familie und die 2001 auf ihrem Land gegründete internationale Begegnungsstätte «Tent of Nations» weiterhin das Ziel zahlreicher Angriffe. So legten Vandalen in den letzten paar Jahren Feuer auf dem Gelände, zerstörten über 1000 Bäume und griffen zwei Brüder von Daoud Nassar körperlich an, so dass sie schwere Verletzungen davonzogen. 

Inzwischen ist das Tent of Nations von fünf illegalen, rasch wachsenden jüdischen Siedlungen umgeben, und es werden immer mehr Strassen gebaut, die nur von den Siedlern befahren werden dürfen. Strassensperren und Kontrollpunkte verstärken die Isolation und das Gefühl der Bedrohung.

Gewaltloser Widerstand

Dennoch lebt die Familie Nassar ohne Aggression nach dem Motto «Wir weigern uns, Feinde zu sein» und hofft auf eine bessere Zukunft. Die Familie versuche, «ihre Hindernisse, Herausforderungen, die ständigen Zerstörungen und die Angriffe auf ihr Leben auf der Grundlage ihrer christlichen Werte und im Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit friedlich und gewaltfrei zu überwinden». Dazu empfängt die Familie auf ihrem Landwirtschaftsbetrieb Freiwillige und Gäste zur Mitarbeit auf dem Betrieb oder zur Teilnahme an verschiedenen friedensfördernden Veranstaltungen und Aktivitäten. Längerfristig möchte die Familie Nassar auf der Farm ein Umwelt- und Bildungszentrum einrichten, in dem Kinder und Jugendliche etwas über alternative Energien, biologische Landwirtschaft und Gemeinschaftsbildung lernen können. Seit 2001 wird das Tent of Nations vom Verein «Schweizer Freundeskreis Zelt der Völker» unterstützt.

Können Sie dagegen etwas tun?

Es ist uns gelungen, die Siedler juristisch zu stoppen. Am 8. Oktober haben wir deswegen einen Gerichtstermin. Zudem kam es auch zu Übergriffen von Siedlern. Seit wir wieder Freiwillige haben, die auf dem Gelände wohnen und mitarbeiten, gab es das aber nicht mehr. Gäste und Volontäre sind für uns sehr wichtig als Schutz. Seit dem Beginn des Krieges zwischen Israel und Gaza am 7. Oktober 2023 hatten wir weniger Besucher. Im Juli mussten wir aufgrund der aktuellen Situation unser jährliches Sommercamp für christliche und muslimische Kinder aus Bethlehem und dessen Umgebung absagen.

Gäste und Volontäre sind für uns sehr wichtig als Schutz.
Daoud Nassar, Gründer und Leiter des Tent of Nations

Wie sind Sie von den derzeitigen politischen Ereignissen betroffen?

Man kann schwer langfristig planen. Wir verfolgen dauernd die Nachrichten, leben von Stunde zu Stunde und wissen nicht, was passiert. Es ist kein Leben, wenn man nicht weiss, was die nächsten Stunden bringen. Wir, die Familie und die Volontäre, sind ständig unter Druck, Angst und Stress. Zudem sperrt das israelische Militär im Moment den direkten Weg, der uns mit Bethlehem verbindet. Wir kommen nur über längere und mühsame Umwege von der Farm nach Bethlehem.

Sie wollten die Schweiz in den letzten Wochen für Vorträge besuchen. Was bedeutet es für Sie, dass Sie die geplante Reise auf ungewisse Zeit verschieben mussten?

Ins Ausland zu gehen, ist für uns sehr wichtig, um Freunde zu treffen, aber auch, weil wir in der Schweiz einen Verein haben, der uns seit 2002 begleitet. Wichtig ist auch, die Botschaft des «Tent of Nations» weiterzuverbreiten. Wir wollen nicht nur von der negativen Situation sprechen, unter der wir leben müssen, sondern auch unsere Friedensbotschaft weitergeben und die Leute damit motivieren, uns zu unterstützen, besonders als Freiwillige. 

Dringender Aufruf

Die Familie Nassar bittet in einem dringenden Aufruf um Unterstützung für die anstehende Anhörung beim israelischen Militärgericht. Nassars wurden von Israel aufgefordert, ihr Land neu zu registrieren. Jedoch zögert das zuständige Komitee die Entscheidung immer wieder hinaus, sagt Termine ab oder verschiebt sie. Insgesamt 33 Jahre dauert der Kampf der Nassars auf Anerkennung ihres eigenen, verbrieften Landes durch die israelischen Behörden bereits an. Am 11. September soll es nun zur dreizehnten Anhörung seit 2021 kommen. Dafür ruft die Familie zur Mobilisierung der Regierungen anderer Länder auf, damit diese Druck auf die israelische Militärbehörde ausüben, endlich den Entscheid zu Gunsten der Familie zu fällen.

Konnten Sie das nun in anderer Form tun?

Ich habe per WhatsApp und Zoom an einem Anlass und einem Gottesdienst in Biel mitgewirkt. Es ist aber wichtig, die Leute persönlich zu treffen. So kehren auch wir jeweils motiviert zurück. Denn wenn wir hier alleine sind und wenige Volontäre kommen, sind wir  sehr unter Druck und einsam. Einsamkeit schafft Angst und Unruhe. Rauszugehen und die Leute zu sehen heisst, spüren zu können, dass wir nicht alleine sind. Das gibt uns Kraft und Energie weiterzumachen.

Aktuell ist die politische Lage äusserst angespannt. Ihr Motto ist: «Wir weigern uns, Feinde zu sein.» Wie gelingt es Ihnen in dieser Zeit, danach zu leben?

Es ist nicht einfach. Aber für uns wäre es der falsche Weg, mit Gegengewalt auf unsere Situation zu reagieren, zu resignieren oder auszuwandern. Vor unseren Herausforderungen wegzurennen, fänden wir nicht richtig. Verlassen die palästinensischen Christen das Heilige Land, besteht dieses nur noch aus toten Steinen. Wir haben uns gesagt, dass es einen anderen Weg ohne Gewalt geben muss, um mit der Situation umzugehen. 

Die konstruktive Gewaltlosigkeit ist unsere Lebenseinstellung.
Daoud Nassar, Gründer und Leiter des Tent of Nations

Wie sieht dieser Weg aus?

Unter dem Motto «Wir weigern uns, Feinde zu sein» haben wir vier Prinzipien definiert, nach denen wir leben. Erstens weigern wir uns, Opfer zu sein. Zweitens weigern wir uns, zu hassen. Niemand kann uns zu Hass zwingen. Drittens agieren wir aufgrund unseres christlichen Glaubens und viertens glauben wir an die Gerechtigkeit. Diese konstruktive Gewaltlosigkeit ist unsere Lebenseinstellung. Unsere Feinde sind nicht die Menschen, sondern das System ist das Problem. 

Daour Nassar

Daour Nassar

Der Palästinenser Daoud Nassar (53) ist evangelisch-lutherischer Christ und Gründer und Leiter des privaten Friedensprojekts «Tent of Nations – Zelt der Völker» südwestlich von Bethlehem im von Israel besetzten palästinensischen Gebiet des Westjordanlands. Er besuchte eine Bibelschule in Österreich, hat einen Magister in Betriebswirtschaft der Universität Bethlehem und absolvierte an der Universität Bielefeld ein Aufbaustudium in internationalem Tourismusmanagement. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Wie blicken Sie in die Zukunft? 

Die politische Situation ist schwierig. Wir Christen sind eine Minderheit, trotzdem müssen wir unsere wichtige Rolle spielen, indem wir die Hoffnung nicht aufgeben. Wir dürfen nicht dabei bleiben zu denken, dass es keine Möglichkeit mehr gibt. Als Jesus gekreuzigt wurde, dachten die Jünger, das sei das Ende. Nach der Auferstehung erschien ihnen Jesus, tadelte sie für ihren Unglauben und ermahnte sie, hinauszugehen und die frohe Botschaft zu verbreiten. Wir als christliche Minderheit sind das Salz der Erde. Wir dürfen nicht aufgeben, sondern sollen uns in kleinen Schritten für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen. Und das ohne an das Morgen zu denken. Wir müssen uns fragen: Was kann ich heute tun, damit es morgen besser wird? Das sehe ich aufgrund unseres Glaubens als unsere Aufgabe. Glaube, Hoffnung und Liebe sind die drei Fundamente unserer Arbeit hier.