Der Schöpfung gehen die Tiere und die Pflanzen aus.

Biodiversität

Immer mehr Kirchen gestalten ihren Aussenraum naturnah und schaffen damit Lebensräume für Tiere und Pflanzen. Das ist von zunehmender Dringlichkeit. Zu Besuch in Stadel und Aarau.

Das Drehbuch stimmt. Beim Rundgang mit dem Kirchenpfleger Daniel Pfister um die reformierte Kirche Stadel bei Niederglatt eilt plötzlich strahlend eine Frau herbei: «Dani, gestern sah ich bei den neuen Wildstauden einen Russischen Bären!» Der Kirchenpfleger schaut sie fragend an. Lachend erklärt sie, das sei eine Schmetterlingsart. «Seit Jahren hatte ich keinen mehr gesehen!» Nun lacht auch Pfister. «Ich glaube, das ist kein Zufall.» 

Zu viel unbelebte Natur

Vor einem Jahr begannen 18 Freiwillige, die Umgebung der Kirche in einen Naturgarten zu verwandeln. Sie rissen Kirschlorbeer, Buchsbäume und andere standortfremde Pflanzen aus und setzten einheimische. Aus den Ästen errichteten sie Haufen als Unterschlupf für Igel. Im Frühling kam eine Ruderalfläche hinzu, mit Steinen, Sand und Pflanzen als Zuhause für Eidechsen, Käfer und Wildbienen, ein Gräberfeld wurde geräumt und dort Wildblumen angesät. Was für manche «unordentlich» aussieht, ist ökologisch äusserst wertvoll. 

Die Artenvielfalt ist weltweit dramatisch zurückgegangen. Wir als Kirche müssen helfen, sie zu erhalten.
Daniel Pfister, Kirchenpfleger Stadlerberg

Bis dahin war die Umgebung der Kirche Stadel wie viele Flächen rund um grössere Gebäude pflegeleicht, aber ökologisch scheintot, da sie für Tiere kaum Lebensraum bot. Als 2021 die Kirchenpflege die Zertifizierung mit dem kirchlichen Umweltlabel Grüner Güggel beschloss, war sofort deutlich, dass zur Bewahrung der Schöpfung mehr gehört als Energiesparen. «Die Artenvielfalt ist weltweit dramatisch zurückgegangen», sagt Pfister. «Wir müssen helfen, sie zu erhalten.» 

Er selbst stellte ein Umweltteam zusammen, zu dem unter anderem der Präsident des Naturschutzvereins Bachsertal gehört. Ab 2025 soll auch die Kirche in Bachs biodivers werden. Sie gehört zur Kirchgemeinde Stadlerberg. 

Zaghafte Landeskirchen

Wenn demnächst vom 1. September bis zum 4. Oktober die Schweizer Landeskirchen die «Schöpfungszeit» feiern, können sich allerdings noch nicht viele Kirchgemeinden mit dem diesjährigen Motto «Biodiversität – Heilige Vielfalt» brüsten. 

Laut der Fachstelle Oeku – Kirchen für die Umwelt, die die Zertifizierungen mit dem Grünen Güggel macht und die Themen der Schöpfungszeit setzt, sind erst drei Landeskirchen ernsthaft dabei, ihre Gemeinden zu mehr Nachhaltigkeit zu animieren. Sie bieten offensiv Ausbildungen und Beratungen sowie finanzielle Beteiligung. 

Im Thurgau tragen schon fast alle katholischen Pfarreien das Label, und auch in der reformierten Kirche Kanton Zürich und der katholischen Landeskirche Aargau nimmt die Anzahl stetig zu. Längst nicht alle haben eine naturnahe Umgebungen, sie müssen sich jedoch damit auseinandersetzen. 

«Das Thema Artenvielfalt betrifft die Kirche auf verschiedenen Ebenen», sagt Kurt Zaugg-Ott, Co-Leiter der Fachstelle Oeku. Zunächst theologisch: «Im Buch Genesis ist Biodiversität ein zentrales Thema.» Dann praktisch: «Die meisten Kirchen stehen mitten in Siedlungen und verfügen über grosse Grünflächen. Sie könnten darum gut zur Bewahrung der Schöpfung beitragen mit naturnahen Anlagen, die Lebensräume untereinander verbinden.»

Im Buch Genesis ist Biodiversität ein zentrales Thema.
Kurt Zaugg-Ott, Co-Leiter Fachstelle oeku – Kirchen für die Umwelt

Bewusstsein wächst

Das Bewusstsein für Biodiversität scheint immerhin zu wachsen. «Oft loben Gemeindemitglieder und Passanten unsere naturnahen Flächen», sagt Heidi Emmenegger, Sozialarbeiterin in der Pfarrei Peter und Paul gleich neben dem Bahnhof Aarau. Mit Viktor Schmid, einem Ehrenamtlichen aus der Gemeinde, der erfahren in Naturschutzprojekten ist, leitet sie die Umgestaltung von 1000 Quadratmetern Fläche in eine naturnahe Umgebung. 

Das Konzept liess sich die Kirche vom Museum Naturama erarbeiten, zusätzlich zu den Beiträgen von Gemeinde und Landeskirche generierte die Pfarrei Geld von Stiftungen und Kanton. Die Arbeiten bewältigen die beiden mit Jungwacht und Blauring, dem Abwart und Freiwilligen. Künftig sollen auch Kinder aus dem Religionsunterricht eingebunden werden. «Das Projekt bereitet allen Freude», sagt Emmenegger, während sie und Schmid die wild bewachsenen Flächen zeigen. «Ich fühle mich inzwischen unwohl, wenn ich die leblosen Rasen und Schotterplätze sehe.»

In die Schöpfungszeit fällt die Biodiversitätsinitiative, über die am 22. September abgestimmt wird. Laut Kurt Ott-Zaugg ist dies Zufall, «aber nicht ungünstig». Gemäss Bundesamt für Umwelt sind in der Schweiz ein Drittel aller Arten und die Hälfte der Lebensraumtypen gefährdet. Die Gründe: mangelnde Flächen, Bodenversiegelung, Zerschneidung, intensive Nutzung sowie Stickstoff- und Pflanzenschutzmittel. Damit die Schweiz mehr für den Erhalt der Natur unternimmt, lancierten Umweltorganisationen die eidgenössische Volksinitiative «Für die Zukunft unserer Natur und Landschaft», die Biodiversitätsinitiative. Sie verlangt die notwendigen Flächen und Gelder für den Erhalt der Lebensgrundlagen, ohne fixe Zahlen und Flächen zu nennen. Diese sollen Bund und Kantone bei der Annahme der Initiative bestimmen.