Von einem sehr begabten Mann mit einer kleinen Schwäche

Basteln

Bruno Gerber baut Papierflieger. In Scuol tüftelt er an der perfekten Flugbahn und findet dabei seinen eigenen Weg zu Gott. 

Wenn wir sterben, gehen wir dorthin zurück, wo alles ohne Bedingungen ist.
Bruno Gerber

Bruno Gerber sitzt in der Lounge des eleganten Hotels Belvedere in Scuol. Mit seiner eher schmalen Statur verschwindet er fast im weichen Ledersessel. Immer wieder schweift sein Blick über die majestätische Kulisse der Unterengadiner Berge, die sich hinter grossen Fenstern erheben. 

Vor Gerber auf dem Tisch liegen sein Buch «Werkstatt Papierflieger» und ein Block mit DIN-A4-Papier. Es sind die Utensilien seiner Leidenschaft, die er während des Gesprächs gleich teilen wird.

Seine Augen haben den gleichen Blauton wie sein Pullover mit Stehkragen. Die zarten Hände umschliessen ein grosses Glas Apfelschorle. Wahrscheinlich hat Bruno Gerber vergessen, die Reissverschlüsse seiner Boots zuzuziehen. 

Es begann mit einer Schwalbe

Als Bruno Gerber zwölf Jahre alt war, öffnete sich für ihn eine Welt. Ein Nachbarsjunge zeigte ihm eine «Schwalbe» – ein Papierflugzeugmodell mit gefalteter Spitze, das sich mit oder ohne Heck falten lässt. «Mein Ziel war, dass der Flieger stabil in der Luft bleibt», sagt er. 

So begann Bruno Gerber selbst zu tüfteln und zu basteln. Ein aufmerksamer Lehrer der Sonderschule erkannte das aussergewöhnliche Talent des Jungen und schenkte ihm ein Buch mit Anleitungen für das Falten von Papierfliegern. 

Heute ist Bruno Gerber 58 Jahre alt und frühpensioniert. Er leidet unter einem psychoorganischen Syndrom, gepaart mit leichtem Autismus. Mit ruhiger Stimme beschreibt er seine Situation: «Man hat gewisse Fähigkeiten, wo man ganz gut ist, und gewisse, wo man ganz schlecht ist.» Computer und Handys gehören definitiv in die zweite Kategorie, sie liegen ihm «überhaupt nicht». 

Mit 17 Jahren kam Bruno Gerber auf die Bergschule Avrona, ein sonderpädagogisches Internat im Unterengadin. Dort absolvierte er seine Lehre als Koch und arbeitete bis zum letzten Herbst als Souschef. Ein sanftes Lächeln huscht über sein Gesicht, als er von seinem ehemaligen Arbeitsplatz erzählt. «Auch dort hatte ich grosses Glück.» 

Sein Chef erlaubte ihm, in jeder Mittagspause zum «Flügeln» zu gehen. Das Schulareal in Tarasp mit seinem Hang bot ihm ideale Bedingungen. Der Rekord seiner Flieger liegt bei 18 Minuten in der Luft. 

Wenn die Libelle abhebt

Auf dem Tisch liegt jetzt eine «Libelle». Der Typ gilt als einfach zu machenden Flieger. In Windeseile faltet er das Blatt Papier zu einem Fluggerät. «Er sieht einfach aus, hat aber trotzdem seine Ansprüche.» 

Sobald er sich konzentriert, lässt Gerber ein sonores Brummen hören. Mit dem Flieger in der Hand verlässt er das Hotel und geht ein paar Meter weiter an einen Hang. Mit hoch ausgerecktem Arm hebt Berger die Libelle in die Luft. Sein Blick folgt den Wolken am Himmel, während er reglos verharrt, das Papierflugzeug in der Hand, bereit zum Abheben. Erneut entweicht Gerber dieses Brummen. In den manchmal langen Minuten, in denen er auf die richtigen Windbedingungen wartet, hält er Zwiesprache mit Gott. So formuliert er es selbst. 

Er sei zwar anthroposophisch aufgewachsen, aber Mitglied der reformierten Kirche. Das Buch «Gespräche mit Gott» von Neale Donald Walsch hat ihn tief inspiriert. «Dort geht es um einen Gott, der bedingungslos liebt, und das sollten wir Menschen auch miteinander tun.» Doch oft sei es anders: «Wir leben auf der Welt, in der alles auf Bedingungen aufgebaut ist.» Nach dem Tod dann «gehen wir zurück dorthin, wo alles ohne Bedingungen ist: in den Himmel», sagt er.

Und dann: zack! Gerber lässt die Libelle los. «Raus, raus, ja schön», ruft er ihr hinterher. Erste Schaulustige haben sich auch schon eingefunden. Immer, wenn sie fragen, ob er ihnen zeigen könne, wie das gehe, sagt er verschmitzt: «Sie können mein Buch kaufen, da steht alles drin.»