«Ich wusste nicht, wie ich so weiterleben kann»

Glauben

Durch eine Blutvergiftung verlor Francis Osagiobare 2021 seine Hände und Füsse. Heute motiviert er Menschen, niemals aufzugeben. 

An Blicke hat sich Francis Osagiobare gewöhnt. Die meisten Passanten schauen diskret, aber manche mustern unverhohlen seine Beinprothesen und Arme, die nach den Ellbogen enden. Früher trank er sich oft Mut an, um die Aufmerksamkeit auszuhalten, aber jetzt steuert er fröhlich plaudernd seinen Rollstuhl die Strasse entlang, hinein ins Lebensmittelgeschäft. Der 44-Jährige freut sich, den Fotografen und die beiden Journalistinnen zu bekochen. Essen zuzubereiten, ist für ihn ein wichtiger Akt, heilsame Normalität. 

«Hey Mann, was gibts heute zu essen?», ruft der Kassierer. Osagiobare steigt lachend aus dem Rollstuhl. Er nutzt ihn nur, wenn er etwas tragen muss. Rasch geht er durch die Regale, begutachtet Zwiebeln, holt Poulet aus der Kühltruhe. Seine Armstümpfe sind seine Finger geworden, flink bedient er damit auch das Handy.

Nach Koma Schocknachricht

Zurück in der Wohnung im 14. Stock zeigt er stolz die Aussicht. Vom Balkon blickt man ins Zürcher Letzigrund-Stadion. Der Fussball ist eine beglückende und zugleich schmerzvolle Konstante in seinem Leben. Als Kind spielte Osagiobare in Nigerias Hauptstadt Lagos auf der Strasse. Nach dem Umzug in die Schweiz vor 20 Jahren fand er durch Fussball Freunde. 

Zwei Tage später erwachte ich aus dem Koma, meine Hände und Füsse waren tot.

Während eines Matchs nahm sein Leben aber diese brutale Wende. Osagiobare erzählt es, als er vor dem Kochen kurz pausiert, um die Oberschenkel zu entlasten. «Im April 2021 holte ich jemanden von einem Spiel ab, als ich in der linken Hand Schmerzen spürte. In der Nacht waren sie so stark, dass meine Freundin mich ins Spital brachte.» Sofort wird er in ein grösseres Krankenhaus verlegt, unterwegs fällt er ins Koma. «Zwei Tage später erwachte ich, meine Hände und Füsse waren tot. Die Ärzte sagten, ich hätte eine Blutvergiftung und würde sterben, wenn sie nicht sofort amputieren.»

Als Osagiobare aus der Narkose aufwacht, sind seine Oberarme und Schenkel in Bandagen. «Ich rief meine Freundin an und sagte: Geschafft, ich lebe!» Aber als die Wirkung der Medikamente allmählich nachlässt, dreht er beinahe durch. «Ich wusste nicht, wie ich so leben soll.» Die Ärzte versprechen ihm, dass vieles wieder möglich werde, sogar Fussball spielen. Aber er brauche Geduld, die Reha dauere sicher zwei Jahre.

Gott schenkte mir ein zweites Leben, damit ich anderen helfen kann, ihres zu meistern.

Zum Erstaunen aller kehrt Osagiobare nach sechs Monaten heim. In der Rehaklinik Bellikon trainiert er oft zehn Stunden am Tag. «Die Therapeuten sind super. Doch ich entwickelte auch allein Strategien, was mich sehr motivierte.» Das und viele Gespräche mit anderen Patienten mit schweren Schicksalen helfen ihm, seins anzunehmen.

Zehntausende folgen ihm

Als «Frankongoing» beginnt er auf Social Media seinen Weg zu dokumentieren, filmt sich beim Training, im Haushalt, stets lachend, mit Musik unterlegt. Die Resonanz ist riesig, Zehntausende folgen ihm. Viele lassen ihn wissen, er mache ihnen Mut, ihr eigenes Schicksal zu bewältigen. 

Doch wenn Francis Osagiobare allein ist, die Kamera aus, fällt er in ein immer tieferes Loch, wird alkoholkrank. Im Dezember 2023, nach dem Aus seiner Beziehung, denkt er an Suizid. In seiner Not reist er nach Lagos, trifft eine Predigerin, die in seiner Kindheit wichtig für ihn war. «Sie rettete mich», sagt er. Er habe einen Entzug gemacht und täglich gebetet. «Ich begriff: Gott schenkte mir ein zweites Leben, damit ich andere motivieren kann, ihres zu meistern.»

Besser als eine Therapie

Im Februar kehrt er heim, meldet sich in den sozialen Medien zurück und fasst den Plan, auch persönlich Menschen in Krisen zu motivieren, etwa in Kliniken. Um hinauszugehen, muss er nicht mehr Mut schöpfen. «Die Passanten sollen denken: ‹Wow, der chillt mit Freunden und lacht!› So ein Anblick kann jemandem mehr helfen als zehn Therapiestunden.»