«Sein Einfluss am Gerichtshof ist immens»

Kant

Mehr als bloss ein abstraktes mo­ralisches Prinzip: Kants Kategorischer Impera­tiv ist für Andreas Zünd, den Schweizer Richter in Strassburg, ein wichtiges Werkzeug.

Sie sind Richter am Gerichtshof für Menschenrechte. Inwiefern hat Ihre Arbeit mit Kant zu tun?

Andreas Zünd: Meine Arbeit als Richter ist eng mit Kants Konzept der Menschenwürde verbunden. Die Freiheit im Einklang mit der Freiheit anderer zu verstehen und sie zu schützen, entspringt einem grundlegenden Prinzip in Kants Philosophie und bildet die denkerische Grundlage der heutigen Menschenrechte. Meine Rolle besteht darin, diese Prinzipien zu verteidigen.

Sie haben die Würde angesprochen: Was macht Kants Vorstellung davon so wichtig und einzigartig?

Ihre Bedeutung liegt in ihrer Universalisierbarkeit. Die Menschenwürde gilt absolut, unabhängig von kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Umständen. Es ist stets erschütternd, wenn Menschen instrumentalisiert und nicht geachtet werden. Gemäss Kants Philosophie dürfen Menschen niemals lediglich als Mittel zum Zweck betrachtet werden; vielmehr sind sie stets auch als Zweck an sich selbst zu achten. Andere Rechte mögen in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich interpretiert werden, doch die unveräusserlichen Menschenrechte bleiben unangetastet.

Andreas Zünd, 67

Andreas Zünd, Dr. iur., ist Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Zuvor war er von 2004 bis 2021 Bundes­richter in Lausanne. Fest verankert im praktischen Rechtsleben sind für den Ostschweizer philosophische Fragestellungen als unverzichtbarer Teil der Rechtsanwendung.

Können Sie von einem aktuellen Praxisbeispiel erzählen, das diese Gedanken widerspiegelt?

Nehmen wir mal das Thema Folter. Jüngst befasste sich der Gerichtshof mit einem osteuropäischen Staat, der die Entführung von Personen und ihre Überführung nach Guantánamo autorisiert hatte. Die Untersuchungen des kürzlich verstorbenen Tessiner Ständerats Dick Marty brachten zutage, wie diese Entführungsflüge abliefen und dass in bestimmten Ländern CIA-Gefängnisse existierten, in denen gefoltert wurde. Folter ist durch nichts zu rechtfertigen, auch nicht, wenn sie die Terrorismusbekämpfung zum Ziel hat, denn die Menschenwürde ist laut Artikel 3 unantastbar.

Auch die Schweiz wird immer wieder wegen Menschenrechtsver­letzungen gerügt, etwa im Justizfall «Carlos». Zu Recht?

Bezüglich dieses spezifischen Falls möchte ich keine Aussagen treffen, da er derzeit bei uns hängig ist. Allgemein lässt sich aber feststellen: Personen, die aufgrund begangener Straftaten – oder weil sie als gefährlich gelten – inhaftiert werden, bleiben Menschen mit der ihr eigenen Würde. Sind sie behandlungsbedürftig, dürfen sie nicht einfach weggesperrt werden; sie haben ein Recht auf eine Therapie. Ihnen diese nicht zu gewähren, könnte als unmenschlich beurteilt werden. Ja, insofern ist auch die Schweiz von dieser Problematik betroffen, auch wenn sie freilich nicht im Mittelpunkt steht.

Die Menschenrechte müssen nicht bloss einmal erkämpft, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern fortwährend verteidigt werden.

Laut Kants Kategorischem Impe­rativ soll man nur so handeln, dass jeder es als allgemeines Gesetz akzeptieren könnte. Findet dies auch Anwendung in der Rechtspraxis?

Dieses wichtige moralische Prinzip widerspiegelt sich beispielsweise in der Konkurrenz der Grundrechte. Auf der einen Seite haben wir die Meinungsfreiheit; ihr gegenüber steht das Recht auf Privatsphäre. Kritik äussern, politische Ansichten hinterfragen, darüber berichten: All dies ist erlaubt. Eine Person jedoch nach Belieben zu diffamieren, stünde keinesfalls im Einklang mit Kants Kategorischem Imperativ. Die Freiheit endet bekanntlich dort, wo sie in die Freiheit eines anderen eingreift.

Eigentlich ist das Menschenbild von Kant mit dem christlichen verwandt, in dem die Liebe Gottes zu jedem Einzelnen betont wird.

Gerechtigkeit ist auch im Christentum eine zentrale Kategorie. Denker wie der frühchristliche Theologe Origenes oder Gregor von Nyssa sahen den Menschen gottesgleich und die Würde des Menschen daraus abgeleitet. Dieses Denken ist durchaus relevant für die heutigen Menschenrechte. Auch das Konzept der Nichtdiskriminierung, dass alle Menschen gleich zu behandeln seien, unabhängig zum Beispiel von Rasse, Ethnie, Geschlecht, Religion oder sexueller Orientierung, findet sich in diesen Überlegungen.

Wie steht es denn um die Menschenrechte 75 Jahre nach ihrer offiziellen Verkündung?

Diese Rechte müssen nicht bloss einmal erkämpft, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern fortwährend verteidigt werden. Sie befinden sich auf allen Ebenen andauernd in Gefahr. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die 1948 verabschiedet wurde, schützt vor staatlichen Eingriffen, und sie dient als Leitlinie für die Gesetzgebung einzelner Länder.

Ich habe an diesem Gerichtshof schon Urteile zugunsten von linken Aktivisten wie auch Politikern aus dem Rechtsaussenspektrum gefällt – und das am selben Tag. Es handelt sich immer um die Freiheit des Andersdenkenden, die es zu verteidigen gilt.

Welches Menschenrecht gilt es ganz besonders zu schützen?

An erster Stelle die Meinungsäusserungsfreiheit. Diese bildet die Grundlage unserer Demokratie. Ich habe an diesem Gerichtshof schon Urteile zugunsten von linken Aktivisten wie auch Politikern aus dem Rechtsaussenspektrum gefällt – und das am selben Tag. Es handelt sich immer um die Freiheit des Andersdenkenden, die es zu verteidigen gilt, wie es seinerzeit die Marxistin Rosa Luxemburg formuliert hat.

Wie bewerten Sie als Verfechter der Meinungsfreiheit die Cancel Culture, die sogar Kants Ansichten als rassistisch stigmatisiert?

Diese Bewegung ist der Versuch, bestimmte Meinungen zu unterdrücken, und somit ein Generalangriff auf die Freiheit der Meinung. Kant spricht sich in seiner Schrift «Zum ewigen Frieden» gegen den Kolonialismus aus. Er betont das Recht, in Kontakt mit anderen Völkern zu treten, ohne diese aber zu unterwerfen. Diese Ansicht stand damals im Widerspruch zum Mainstream. 

Just in dieser Schrift fordert Kant auch ein «Weltbürgerrecht». Dieses weist Parallelen zur Forderung nach globaler Bewegungsfreiheit als Menschenrecht auf. Wie stehen Sie dazu?

Diese Forderung ist mit einem reduzierten Verständnis von staatlicher Verantwortung und Fürsorge verbunden. Eine flächendeckende Krankenversicherung etwa wäre nicht mehr möglich, Zustände wie in den USA drohten. Ich halte das für eine blauäugige Vorstellung, die neoliberale Absichten verfolgt. Menschenrechte beinhalten jedoch stets freiheitliche und soziale Rechte. Beide gilt es zu verteidigen.

Welches Buch liegt auf Ihrem Nachttisch? Kant vielleicht?

Fast. Julia Hänni, Rechtsphilosophie. In der Kürze genial. Es bietet Orientierung über die Grundlagen unserer juristischen Denkkultur.