Die Würde des Menschen im Mittelpunkt

Kant

Dieses Jahr würde der Philosoph 300 Jahre alt. Der Gründervater der erst 75-jährigen Menschenrechte hat auch Einfluss auf viele Bereiche der Ethik, wie dieses Dossier zeigt.

Die gelbe Reclam-Ausgabe von Immanuel Kants «Grundlegung zur Metaphysik der Sitten» (1785) begleitet mich seit Gymnasiumstagen. Damals wurden uns einige Passagen daraus als Pflichtlektüre vorgesetzt. Trotz mehrerer Um­züge hat sich dieses Büchlein im Lauf der Jahre immer wieder einen Platz im Regal gesichert, auch wenn ich ihm seither selten Be­achtung geschenkt habe. Zu kompliziert und vor allem zu zeitintensiv erschien mir die Lektüre.

In diesem Jahr würde der bedeutende Philosoph seinen 300. Ge­burtstag feiern. Zufällig stiess ich im Buchladen auf ein anderes Werk des Jubilars mit dem einladenden Titel «Zum ewigen Frieden» (1795). Kant entwirft darin die Vision einer dauerhaften Frie­densordnung zwischen den Staaten.

Frieden betrachtet er nicht nur als vorübergehenden Zustand, son­dern als Errungenschaft einer moralischen Verpflichtung, die es mittels eines Vertrages zu be­wahren gilt. Die Gedanken legten nach dem Ersten Weltkrieg den Grundstein für den Völkerbund, aus dem 1945 die Vereinten Na­tionen entstanden. Gerade in der heutigen Zeit, in der auf euro­päischem Boden wieder ein Krieg stattfindet, wirken sie erstaunlich aktuell.

Er nahm den Menschen für seine Vernunft in die Pflicht

Noch bedeutsamer als auf Staaten allerdings ist Kants Einfluss auf das Individuum. Der Philosoph aus Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, rückte erstmals den Menschen als freies und moralisch handelndes Wesen in den Mittel­punkt, das nicht gesteuert ist von äusseren Einflüssen oder göttlichen Gesetzen.

Er betonte die Vernunft, die den Menschen ausmacht, und nahm ihn dafür in die Pflicht: «Handle so, dass die Ma­xime der Handlung zu einem allgemeinen Gesetz werden könnte», lautet sein etwas sperrig anmutender Kategorischer Imperativ.

Die Betonung der Würde, die jedem Menschen innewohnt, und die Idee, dass Menschen «Zweck an sich selbst» sind, bilden das Fundament seiner Moral und zahl­reicher internationaler Menschenrechtsdokumente. Allen voran die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die vor 75 Jahren verabschiedet wurde und als deren Gründervater Kant gilt.

Konzept der Patientenautonomie als Grundlage für heute

Darüber hinaus prägen seine Gedanken andere gesellschaftlich relevante Bereiche. Zu nennen wären etwa die Medizin- oder die Wirtschaftsethik. Sein Konzept der Patientenautonomie bildet die Grundlage für ethische Entscheidungen in der Gesundheitsver­sorgung. Gleichzeitig erinnert Kants Definition der Würde in der Wirtschaftsethik Unternehmen daran, dass sie nicht nur nach Profit streben sollten, sondern moralische Verantwortung tragen.

Auch wenn der Philosoph der Aufklärung für gewisse kolonialistische Denkmuster seiner Zeit kritisiert wird: Kant hat der Welt zeitlose Weisheiten hinterlas­sen. Die Lektüre des alten gelben Büchleins fortzusetzen, könnte sich lohnen.