«Wir leben in politisch komplizierten Zeiten»

Ethik

Die Evangelische Kirche in Deutschland polarisiert mit ihrer Friedensdenkschrift. Mitautorin Friederike Krippner sagt, weshalb sie froh ist, wenn Christen in der Bundeswehr dienen.

Die EKD-Friedensdenkschrift ist unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine entstanden. Beim Lesen des Dokuments entsteht der Eindruck, dass sich Deutschland unmittelbar in einer Bedrohungssituation befindet. Ist das so?

Friederike Krippner: So lese ich die Friedensdenkschrift nicht. Aber wir stellen fest, dass wir einen Krieg in Europa haben, den wir in weiten Teilen so nicht vorhergesehen haben. Und wir stellen fest, dass wir in einer völlig volatilen Lage sind und die Erosion der sogenannten regelbasierten Ordnung erleben. Wir sehen, dass internationale Bündnisse in Frage gestellt werden. Die Ausgaben für die Aufrüstung nehmen global zu, wir beklagen so viele Kriegstote wie seit Jahren nicht. Das betrifft bei weitem nicht nur Europa, sondern vor allem afrikanische Länder wie etwa den Sudan. Diese globale Situation beschreiben wir mit der Formulierung einer Welt in Unordnung.  In der Friedensdenkschrift geht es in erster Linie darum, wie Frieden in dieser Weltlage erreicht werden kann.  

Die Denkschrift behandelt sehr konkret Themen wie Waffenlieferungen und atomare Abschreckung, es entsteht der Eindruck, dass diese unter gewissen Umständen legitimiert werden. Wäre es nicht Aufgabe der Kirche, im Moment, in dem die Welt aus den Fugen gerät zu sagen: So nicht!

Atomwaffen sind weder in ihrer Herstellung, noch in ihrer Androhung und schon gar nicht in ihrem Gebrauch ethisch zu legitimieren. Aber wir leben in einer Welt, in der Nuklearwaffen noch immer eine Realität sind. Die Denkschrift stellt die Frage, was es für Deutschland bedeuten würde, in dieser Lage auf nukleare Teilhabe zu verzichten. Würde Deutschland einseitig aussteigen, wäre die Mitgliedschaft in Bündnissen wie der Nato gefährdet. Das ist ein Dilemma, das nicht ohne Schuld auflösbar ist. Deutschland muss sich gemeinsam mit seinen Bündnispartnern für nukleare Abrüstung einsetzen. Das steht auch ganz klar in der Denkschrift. Dieser Aspekt wird in der medialen Debatte oft ausgeblendet. 

Friederike Krippner

Friederike Krippner

Friederike Krippner ist Direktorin der Evangelischen Akademie zu Berlin und war stellvertretende Vorsitzende des Redaktionsteams, das die EKD-Friedensdenkschrift geschrieben hat. Krippner wurde 1982 in Bochum geboren und studierte in Münster und Lund Germanistik, Evangelische Theologie und Geschichte.  

(Foto: © EAzB/Karin Baumann)

Die Denkschrift wurde in pazifistischen Kreisen stark kritisiert und in den Medien kontrovers diskutiert. Woran liegt das?

Die Denkschrift umfasst gut 140 Seiten, die Passage zu Nuklearwaffen knapp fünf. Aber Atomwaffen und Kriegsdienstverweigerung sind Themen, die die christliche Friedensbewegung sehr stark geprägt haben, das waren evangelische, identitätsstiftende Momente. Damit erkläre ich mir, dass diese Themen am meisten rezipiert werden. Hinzu kommt, dass wir gerade im Osten Deutschlands aus der Tradition heraus ein Kirchenverständnis haben, dass Kirche traditionell eher im Widerstand zum Staat verortet. Auch vor diesem Hintergrund muss die Kritik verstanden werden.  Bezogen auf die Nuklearfrage ist die Denkschrift tatsächlich insofern in gewisser Weise unbefriedigend, als die Situation ja auch denkbar unbefriedigend ist. Das Dilemma wird nicht aufgelöst, weil es derzeit nicht so einfach auflösbar ist. Die Grundsatzfrage mit Blick auf die Denkschrift ist aber doch: Wie viel politische Realität lässt die Kirche in sich hinein?

Manche Kritikerinnen und Kritiker werfen der Kirche vor, mit der Friedensdenkschrift die aktuelle Sicherheitspolitik im Nachhinein zu legitimieren.

Wir legitimieren nichts. Das sieht man alleine schon daran, dass die Denkschrift an vielen Stellen – zum Beispiel bei der Beurteilung der Notwendigkeit einer konsequenten Klimapolitik, dem Umgang mit Geflüchteten, dem Plädoyer für eine allgemeine Dienstpflicht und vielem mehr – zu ganz anderen Schlüssen als die aktuelle Regierung kommt.  Doch in der Spannung zwischen ethischem Prinzip und politischer Notwendigkeit steht das Christentum eigentlich schon immer. Da können wir beim Urchristentum beginnen. Schon da geht es darum, was etwa mit der radikalen Botschaft der Feindesliebe passiert, wenn das Reich Gottes nicht morgen eintritt? Noch stärker mussten Christen nach der konstantinischen Wende mit der Feindesliebe ringen, nämlich in dem Moment, in dem sie Verantwortung übernahmen – in der Politik, aber auch im Militär. Das sind also gar keine neuen Fragen, sondern Fragen, die die Kirche schon immer umtreiben. Und – dies auch nochmal mit einem Blick auf die Rolle der Evangelischen Kirche in der DDR – in einem Rechtsstaat stellen sich diese Fragen nochmals anders als in einem Unrechtsstaat.

Können Sie die Kritik der radikalen Pazifisten denn nachvollziehen?

Ich möchte mir eine Welt ohne Radikal-Pazifistinnen und Pazifisten nicht vorstellen. Sie erinnern daran, wie absurd es ist, Menschen irgendwo hinzuschicken, um sich gegenseitig zu verstümmeln und zu töten. In der Denkschrift gibt es auch ein Kapitel zur Grausamkeit des Krieges. Es gibt keinen gerechten Krieg. Aber wir leben in politisch komplizierten Zeiten. Ethik findet immer im Austausch mit der Wirklichkeit statt. Innerhalb der evangelischen Kirche in Deutschland gab es zum Beispiel eine riesige Debatte über Waffenlieferungen in die Ukraine. Die Menschen wollen Orientierung. Viele haben den Eindruck, in dem Fall sind Waffenlieferungen vielleicht richtig. Aber stimmt das aus ethischer Perspektive? Die Denkschrift entscheidet diese Frage übrigens nicht endgültig, sie sagt, dass Waffenlieferungen keinesfalls ethisch zu verlangen sind, es unter Güterabwägungsaspekten aber ethisch legitim sein kann, sie zu liefern. Die Abwägung muss in der jeweiligen politischen Situation vorgenommen werden. In diese politische Abwägung muss einfließen, dass man sich schuldig auch durch das machen kann, was man nicht tut. Ich halte die starken negativen Reaktionen auf die Denkschrift eher für angstgeleitet.

Inwiefern?

Das ist in gewisser Weise verständlich. Die Weltlage ist komplex. Was kann ich schon tun? Dabei gibt die Denkschrift sehr viel Hoffnung. Eben weil das Dokument die aktuellen Fragen konkret anspricht. Sie zeigt, dass wir alldem nicht einfach ausgeliefert sind, dass es Handlungsoptionen gibt. Es gab und gibt übrigens bei weitem nicht nur Kritik: Auf der EKD-Synode wurde nach der Vorstellung der Denkschrift lange applaudiert. Viele Menschen sind dankbar, dass sich die EKD mit diesen Fragen in angemessener Komplexität auseinandergesetzt hat.  

Die Friedensdenkschrift

Unter dem Titel «Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick» hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) im November eine neue Friedensdenkschrift veröffentlicht. Sie aktualisiert Positionen eines Dokuments aus dem Jahr 2007 vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Lage. Sehr konkret spricht die Denkschrift derzeitige Herausforderungen und Themen wie hybride Kriegsführung, Atomwaffen, Präventivangriffe, Wehrdienst und Rüstungsexporte an. Wie schon 2007 spielt das Leitbild des gerechten Friedens eine wichtige Rolle, dieses stützt sich laut EKD auf vier Pfeiler, den Schutz vor Gewalt, der Förderung von Freiheit, dem Abbau von Ungleichheiten und dem friedensfördernden Umgang mit Vielfalt. Der Schutz vor Gewalt erhält in der neuen Denkschrift mehr Gewichtung als die anderen drei Aspekte, er ist die Voraussetzung für sie. Die Entwicklung der Friedensdenkschrift ging ein mehrjähriger partizipativer Prozess voraus, an dem zahlreiche Gremien und Experten beteiligt waren.  Die ethischen Überlegungen sollen sowohl dem christlichen Ideal der Gewaltfreiheit als auch den komplexen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen angesichts der aktuellen Weltlage gerecht werden, wie die EKD selbst schreibt. Mit der Denkschrift will die Kirche Orientierung bieten und Debatten anregen. 

Das machen radikale Pazifisten nicht?

Doch. Aber Radikal-Pazifismus funktioniert nicht als allgemeine politische Theorie. Und theologisch ist die Sache auch nicht so eindeutig. Ohne Zweifelhaben wir mit der Bergpredigt und dem Leben Jesu ein radikales Friedenszeugnis. Doch in der Bibel ist auch der Satz zentral: «Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst.» Daraus lässt sich auch der Auftrag zum Schutz vor Gewalt ableiten. Das Evangelium zeigt die Spannung zwischen Feindes- und Nächstenliebe auf. Theologisch gesehen haben wir die Friedensverheissung, die Liebe und Gnade Gottes und zugleich haben wir das Gesetz, weil wir wissen, dass diese Welt eine unerlöste Welt ist. Das Gesetz aber muss auch durchgesetzt werden. So wie ich mir keine Welt ohne Pazifistinnen und Pazifisten vorstellen will, möchte ich mir auch keine Bundeswehr ohne Christinnen und Christen vorstellen. Ich möchte, dass da Christenmenschen sind, die auch dort Verantwortung übernehmen.

Werden sich die Differenzen zwischen dem pazifistischen Flügel und eher realpolitisch orientierten Christen bereinigt werden?

Nein und das finde ich auch gut. Ich kann beide Haltungen sehr gut nachvollziehen. Meine Hoffnung ist, dass wir im Gespräch bleiben. 

Die Friedensdenkschrift ist aus einer deutschen, europäischen Nato-Perspektive heraus entwickelt worden. War das ein bewusster Entscheid, nicht den internationalen ökumenischen Blick auf das Feld zu werfen?

Ja. Wäre die Denkschrift vom Weltkirchenrat geschrieben worden, wäre es sicher ein ganz anderer Text geworden und er hätte auf manche Fragen, die Christinnen und Christen in Deutschland und in Europa umtreibt, schlicht keine Antworten liefern können. Unsere Standortbestimmung fällt in manchem sicher anders aus als von Christinnen und Christen in Russland, in den USA. Aber ich fände es schön, wenn von möglichst unterschiedlichen Konfessionen aus verschiedenen Ländern auch Schriften vorliegen würden. Auch eine solche Standortbestimmung der reformierten Kirche in der Schweiz wäre interessant. Denn die Auseinandersetzung mit dem Thema ist enorm wertvoll.