Es war paradox. Ausgerechnet Donald Trump, serienmässiger Ehebrecher, früher im Casino-Business tätig und wenig bibelkundig, wurde 2016 von 81 Prozent der weissen Evangelikalen zum Präsidenten der USA gewählt. Und jetzt mobilisiert er sie wieder: die fromme Wählerschaft, zusammengesetzt aus bibeltreuen Protestanten und erzkonservativen Katholiken. Mit der Wahl von Amy Coney Barrett in den Obersten Gerichtshof steht nun in Aussicht, dass das liberale Abtreibungsgesetz der USA per Gerichtsentscheid aufgehoben wird.
Fromme gegen Sklaverei
Aus europäischer Perspektive scheinen die religionspolitischen Frontlinien in den USA schon lange klar geordnet. Wer aber einen Blick zurückwirft, stösst auf Überraschendes. Im 19. Jahrhundert gingen einige wichtige fortschrittliche Impulse von den frommen Erweckungsbewegungen aus. Sie engagierten sich gegen Sklaverei und für sozialpolitische Anliegen; auch waren sie dank ihres Gemeindeaufbaus so etwas wie die Vorschule der Demokratie. So jedenfalls skizziert es der religionsgeschichtliche Aufriss von Philip Gorski in seinem neuen Buch «Am Scheideweg» (Herder 2020).
«Affenprozess» als Zäsur
Aber nach dem sogenannten Affenprozess, als 1925 Charles Darwins Evolutionstheorie auf dem Prüfstand des Gerichts verhandelt wurde, zogen sich viele Evangelikale in die selbst gewählte Isolation zurück. Ihr Beharren, wissenschaftliche Erkenntnisse mit der Bibel wegzuargumentieren, trug ihnen einen schweren Imageschaden ein.
Während die liberalen Kirchen, sprich Presbyterianer, Anglikaner und Lutheraner, um 1900 noch dezidiert die Privilegien der Weissen verteidigten, öffneten sie sich später mehr und mehr den Anliegen der Schwarzen. Der «Social Gospel» eines Martin Luther King war seit den 1960er-Jahren in der demokratischen Partei zu Hause.