«Ich bin zutiefst erschüttert»

Flucht

Ihre Eltern waren vor dem Völkermord im Zweiten Weltkrieg geflohen, nun hat Anita Winter Geflüchteten aus der Ukraine ihr Elternhaus in Baden zur Verfügung gestellt. 

Es sollte nie wieder passieren. Jahrelang hatte sich die gebürtige Badenerin Anita Winter dafür eingesetzt, dass sich die Gräuel des Zweiten Weltkriegs nicht wiederholen. 2014 gründete sie zu diesem Zweck eine Stiftung. «Gamaraal» unterstützt finanziell Holocaust-Überlebende in verschiedenen Ländern und organisiert Bildungsveranstaltungen, um die Erinnerungen an einen schrecklichen Völkermord hochzuhalten – mit dem Appell, dass so etwas nie wieder geschehen darf. 

21 Kinder und eine Überlebende des Holocaust

Doch am 11. März war Anita Winter direkt damit konfrontiert, dass sich die Geschichte trotz allen Bemühungen gnadenlos wiederholen kann. In ihrem Elternhaus in Baden hiess die Israelitische Kultusgemeinde Baden sowie die 59-Jährige und ihre Geschwister Geflüchtete aus der Ukraine willkommen, darunter 21 Kinder und eine Überlebende des Holocausts. Die Schrecken des russischen Angriffs auf die Ukraine waren plötzlich greifbar nahe, spiegelten sich in den Augen der Frauen und Kinder, die ihr gegenüberstanden.

Ein grosser Teil der Gruppe, die praktisch ohne Gepäck angekommen war, wohnen nun in der ersten Zeit im Haus, in dem Anita Winter selbst aufgewachsen ist. Dieses hatten ihre Eltern 1961 bezogen, hier verbrachte die Familie glückliche Jahre. Anita Winters Mutter Margrit Fern, eine 1934 in Deutschland geborene Jüdin war als Mädchen von einem der ersten Deportationszüge gesprungen und hatte später zeitweise unter falsche Namen in einem christlichen Kloster in Frankreich gelebt. Auch ihr Vater Walter Strauss musste sich vor den Nazis verstecken bevor er 1939 in die Schweiz floh. 

Grosse Hilfsbereitschaft

Noch jetzt, zwei Wochen nach der Ankunft der Ukrainer in Baden klingt Winter am Telefon hörbar betroffen. «Ich bin zutiefst erschüttert, dass wir wieder an einem Punkt sind, an dem Menschen flüchten müssen.» 

Die Aufnahme von Ukrainischen Geflüchteten in Baden war von der Israelitischen Kultusgemeinde Baden lanciert worden, Winter und ihre drei Geschwister hatten der Kultusgemeinde das Haus zur Verfügung gestellt. Winter: «Die enorme Hilfsbereitschaft vieler Freiwilliger hat mich zutiefst berührt. Innert kürzester Zeit hatten wir das Notwendigste zum Wohnen beieinander.»

Grossvater verlor in der Ukraine ganze Familie

Menschen aus der Ukraine hilft die Mutter von vier erwachsenen Kindern auch im Rahmen ihres Engagements in der Gamaraal Foundation: «Wir haben dort bereits vor dem Krieg Holocaust-Überlebende finanziell unterstützt, denn viele von ihnen leben in Armut. Seit Beginn des Krieges schicken wir nun regelmässig Geld. Viele von ihnen sind alt und gebrechlich und können nicht fliehen.» Durch ihren Grossvater mütterlicherseits fühlt sie sich den Menschen in der Ukraine in dieser hoffnungslosen Lage besonders verbunden. «Er verlor dort im Zweiten Weltkrieg an einem einzigen Tag seine Eltern,alle seine Geschwister und weitere Verwandte. Sie wurden alle auf dem Marktplatz einer Stadt in der heutigen Ukraine erschossen. Ich möchte darum den Menschen in der Ukraine etwas zurückgeben, denn ich selbst hatte das Glück, dass meine Eltern eine glückliche neue Existenz in der Schweiz aufbauen konnten und in Baden eine neue Heimat gefunden haben.» 

Mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet

Die Stiftung leistet auch in der Schweiz Unterstützung für Überlebende des Holocausts. Im Rahmen der Bildungsarbeit zeigt die Gamaraal Stiftung zudem seit 2017 die mit dem Archiv der Zeitgeschichte der ETH Zürich konzipierte Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors» in zahlreichen Ländern. Diese haben Dutzende Institutionen mitfinanziert, darunter die Eidgenössische Fachstelle für Rassismusbekämpfung und die Reformierte Kirche Aargau. Schliesslich setzt sich Anita Winter auch im Uno-Menschenrechtsrat in Genf für den Schutz von Menschen ein: als Vertreterin des Coordinating Board of Jewish Organizations. Für ihr Engagement erhielt sie letztes Jahr im Februar das Bundesverdienstkreuz der Deutschen Bundesrepublik. 

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