Das Leben in Sicherheit beginnt im Pfarrhaus

Flucht

Bomben rissen Grossmutter, Tochter und Enkelin aus ihrem alten Leben. Obwohl die Frauen im Krieg alles verloren haben, überwiegt in der Schweiz das Gefühl der Dankbarkeit. 

Es sollte ein ganz normaler Tag werden. Doch der 24. Februar 2022 wurde zur dramatischen Wende. Valentina Leonenko war gerade auf dem Weg ins Badezimmer, als um 6 Uhr morgens in der unmittelbaren Nähe ihres Hauses eine Bombe einschlug. Kiew, ihre Heimatstadt, wurde von den ersten Luftangriffen russischer Truppen erschüttert. 

«Nie hätte ich das für möglich gehalten», sagt die 28-Jährige. «Es fühlte sich total unwirklich an.» So unwirklich wie die Tatsache, wenige Tage später in einer kleinen Küche im Kirchgemeindehaus von Wädenswil zu sitzen und ein Interview zu geben. Als Flüchtling.  

Herzlichkeit und Mitgefühl

Im Zimmer nebenan spielen an diesem Morgen Kinder. Draussen bellt ein Hund. Sonnenstrahlen werfen goldene Muster an die Wand. «Ich habe keine Worte, die ausdrücken könnten, wie dankbar ich bin», sagt Leonenko. «Die Menschen in der Schweiz haben uns so herzlich und voller Mitgefühl empfangen.» 

Neben ihr sitzt ihre Mutter Irina Kovshova. Die beiden Frauen haben Unterschlupf gefunden im unweit gelegenen Pfarrhaus. Dort wohnen sie seit ein paar Tagen zusammen mit zwei anderen Flüchtlingsfamilien aus der Ukraine.

Das 250 Jahre alte Gebäude war zuletzt längere Zeit ungenutzt. In einem Jahr soll es umgebaut werden, zwei Mietwohnungen sind geplant. «Es ist ein Glücksfall, dass das Haus leer stand», sagt Kirchenpflegerin Ornella Erni. «So konnten wir es in kürzester Zeit als Unterkunft für Flüchtlinge bereitstellen.»

Mutter und Tochter wohnen im Erdgeschoss, ihr helles, geräumiges Zimmer war einst das Pfarrbüro. Im Obergeschoss sind die beiden Familien mit je drei Kindern untergebracht. Mittlerweile sind alle Räume mit Betten, Tischen, Stühlen möbliert. Die Hilfsbereitschaft der Wädenswiler war gross. 

Das Pfarrhaus ist mit WLAN ausgestattet, damit die neuen Bewohnerinnen und Bewohner mit Verwandten und Freunden in ihrer Heimat in Verbindung bleiben können. Irina Kovshova musste ihren Partner, der nun als Soldat das Land verteidigt, in Irpin zurücklassen.    

Tod und Zerstörung

Alle einquartierten Flüchtlinge haben einen Bezug zu Wädenswil. So lebt Leonenkos Tante seit 15 Jahren mit ihrer Familie in der Seegemeinde. Sie beherbergt nun die Grossmutter, Tamara Kovshova. 

«Wir sind froh, dass wir jetzt alle in Wädenswil sind», sagt Leonenko. Dass die Frauen zusammenfinden würden, war zunächst ungewiss. Irina Kovshova wohnte in Irpin, einem nordwestlich gelegenen Vorort von Kiew. Die russische Armee bombardierte zuerst Brücken und Strassen, es gab keine Verbindung mehr zur Hauptstadt, wo die andere Hälfte der Familie wohnte. 

Einige Tage harrten die Frauen getrennt in Luftschutzkellern aus. Am 28. Februar reiste Leonenko mit ihrer Grossmutter im Zug nach Polen. Irina Kovshova folgte wenige Tage später dank des Roten Kreuzes. 

Als Kovshova von der dreitägigen Flucht erzählt, füllen sich ihre Augen mit Tränen. «Wir sahen überall tote Menschen und Zerstörung.» Hab und Gut liessen sie zurück. Am 8. März, dem internationalen Frauentag, konnten sich die drei Frauen in der polnischen Stadt Breslau endlich in die Arme schliessen. 

Valentina Leonenko ist Immobilienfachfrau und spricht perfekt Englisch. Sie hofft, in der Schweiz bald eine Arbeit zu finden. Daneben möchte sie ehrenamtlich tätig sein. «Es ist mein Wunsch, Menschen zu helfen, denen es schlechter geht als uns.» Zweimal in der Woche kommt eine ehemalige Lehrerin ins Pfarrhaus, um den Flüchtlingen Deutschunterricht zu geben.

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