«Wir halten eine Lücke für Menschlichkeit offen»

Seelsorge

Susanna Meyer Kunz, Leiterin der reformierten Seelsorge im Zürcher Unispital über Abschiede von Covid-19-Erkrankten und die vermehrte Sorge um das Krankenhauspersonal.

Wie sieht Ihre Arbeit als Seelsorgerin im Unispital Zürich derzeit aus?

Susanna Meyer Kunz: Einerseits bin ich Seelsorgerin vor Ort für eine grosse Intensivstation, die auch für Covid-19-Patienten und Patientinnen zuständig ist. Andererseits bin ich Teamleiterin der reformierten Seelsorge im Spital. Das heisst ich muss mein Team neu organisieren, weil Mitarbeitende der Risikogruppe angehören und ins Homeoffice müssen. Darüber hinaus werden Stationen aufgrund von Covid-19 gezügelt und verändert. Wir müssen permanent flexibel sein, weil sich eigentlich jeden Tag etwas ändert. Das Bundesamt für Gesundheit hat aufgrund von Covid-19 ein Besuchsverbot für Angehörige in Spitälern erlassen.

Was bedeutet das für Sie als Seelsorgende? Haben Sie noch mehr zu tun?

Ja, weil das Besuchsverbot ja auch bedeutet, dass alle Patientinnen und Patienten, die andere Erkrankungen haben, auch nicht mehr besucht werden dürfen. Da ist der Bedarf an Seelsorge schon gestiegen. Mit dem Besuchstopp haben wir im Unispital gemeinsam mit der Pflegeleitung rasch die Idee gehabt, dass wir auch in Spitalkleidung arbeiten – sonst sind wir ja in zivil unterwegs. Das stellte sich als eine sehr gute Idee heraus, denn das hat uns den Zugang zu den Patienten nochmal enorm erleichtert.

Wie betreuen sie schwererkrankte, also intensivpflichtige Covid-19-Patienten seelsorgerlich?

In jedem Fall müssen wir die ganze Schutzkleidung aus Anzügen, Masken, Brillen und Handschuhen tragen. Das ist schon signifikant anders, denn man ist in einer Art «verkleidet». Oft spielen wir den Patienten, die ja sediert und beatmet sind, Audionachrichten ihrer Angehörigen vor. Das ist eine schöne Sache, denn die Menschen können ja selbst nicht telefonieren. Grundsätzlich telefonieren wir sehr viel mehr mit Angehörigen, wenn sie damit einverstanden sind, dass wir ihre schwererkrankten Angehörigen seelsorgerlich mitbetreuen.

Ich war fast jeden Tag bei ihm und habe ihm verschiedene Audio-Nachrichten seiner Angehörigen abgespielt.
Susanna Meyer Kunz, Leiterin reformierte Seelsorge am Unispital Zürich

Sie dürfen also in das Patientenzimmer der Erkrankten und sind damit eine Brücke zwischen Angehörigen und Patienten?

Ja, das sind wir. Wir sind ja ein Teil des interprofessionellen Teams. Der Ablauf auf einer Intensivstation ist so, dass am Vormittag die Pflegenden die Angehörigen anrufen und am Nachmittag die Ärzte. Die weisen die Angehörigen dann jeweils auch auf unser seelsorgerliches Angebot hin. Nicht immer, aber oft nehmen die Angehörigen unser Angebot an.

Eben haben Sie bereits geschildert, dass Audio-Nachrichten eine Möglichkeit sind, eine Verbindung zwischen Patient und Angehörigen herzustellen. Gibt es noch andere Brücken, die sie als Seelsorgende bauen?

Kürzlich hatten wir einen schwer an Covid-19- erkrankten Mann auf der Station, die ich betreue. Der war zwar vorerkrankt, aber noch gar nicht so alt. Seine Kinder durften ihn nicht besuchen, weil sie auch infiziert waren. Seine Frau zählte zur Risikogruppe und durfte auch nicht kommen. Ich war fast jeden Tag bei ihm und habe ihm verschiedene Audio-Nachrichten seiner Angehörigen abgespielt. In einer Nacht verstarb er dann. Die Angehörigen konnten sich nicht mehr verabschieden. Dann haben wir mit dem Bestatter gemeinsam geschaut, dass Briefe und Zeichnungen der Enkelkinder, der Kinder und seiner Frau noch in den Sarg gegeben wurden. Oder ich habe auf Wunsch den Psalm 23 am Krankenbett gelesen und der Tochter am Telefon auch nochmals. Ich sehe unsere Aufgabe als Seelsorgende besonders jetzt darin, darauf zu achten, dass Trauer geäussert werden kann.  Dass trotz der strikten Auflagen noch etwas möglich ist. Wir halten eine Lücke für Menschlichkeit und natürlich -wenn gewünscht- auch Transzendenz offen.

Diese Diskussion mit ganz rigiden Vorkehrungen, also keiner Möglichkeit der Verabschiedung mehr, gab es bei uns auch mal.
Susanna Meyer Kunz, Leiterin reformierte Seelsorge Unispital Zürich

Was bedeutet das Ihrer Meinung nach für Angehörige, wenn sie sich nicht mehr verabschieden können?

Das kann je nachdem traumatisch sein. Wir wissen aus Studien und auch aus Erfahrung, dass es für den Trauerprozess günstig sein kann, wenn die Angehörigen sich von dem Toten nochmals verabschieden können. Normalerweise ist das ja auch möglich. Im Unispital haben wir einen Raum, in dem der Leichnam aufgebahrt werden kann. Das ist dank der guten Zusammenarbeit aller Dienste auch zu Covid-19 Zeiten möglich. Sobald der Leichnam das Krankenhaus verlassen hat, ist der Abschied nur noch am geschlossenen Sarg möglich. Daher ist es so wichtig, Angehörige darauf hinzuweisen, sich im Spital nochmals zu verabschieden – natürlich nur, wenn sie das möchten.

Also ist es möglich sich bei einem an Covid-19-Verstorbenen zu verabschieden?

Ja, bei uns im Unispital schon. Aber in einem eng definierten Zeitfenster und mit wenigen Angehörigen und den erwähnten Schutzvorkehrungen. Wir haben dazu im Spital erst gerade eine interne Leitlinie zum Umgang mit Covid-19 auf der Intensivstation erarbeitet. Die entspricht auch den WHO-Richtlinien, die Ende März herausgekommen sind. In denen steht, dass es möglich sein muss, von einem Verstorbenen Abschied zu nehmen.

Sie sprechen von einer kürzlich erarbeitenden Leitlinie. War das früher mal anders, sprich, dass eine Verabschiedung nicht möglich war?

Diese Diskussion mit ganz rigiden Vorkehrungen, also keiner Möglichkeit der Verabschiedung mehr, gab es bei uns auch mal. Wie man es vielleicht auch aus den Nachrichten über italienische Krankenhäuser kennt. Aber in dieser Sache haben wir uns als Spitalseelsorge gemeinsam mit der klinischen Ethik sehr engagiert und exponiert.

Eindrücklich ist zu sehen, dass das Pflegepersonal gesellschaftlich eine höhere Wertschätzung erfährt, als bis anhin.
Susanna Meyer Kunz, Leiterin reformierte Spitalseelsorge am Unispital Zürich

Insbesondere die Mitarbeitenden in Krankenhäusern sind momentan extrem gefordert. Sind sie als Spitalseelsorgende auch für sie da?

Seit zwei Wochen haben wir eine Hotline für Mitarbeitende des Unispitals eingerichtet. Dort können Mitarbeitende rund um die Uhr anrufen. Wir von der Seelsorge machen den Pikett-Dienst ab 22 Uhr in der Nacht. Die Hotline wurde sehr rasch und engagiert durch das USZ in Zusammenarbeit mit Psychiatern, Psychologinnen, der klinischen Ethik, der HR und uns auf die Beine gestellt.

Und mit welchen Gedanken oder Sorgen treten die Krankenhausmitarbeitenden an Sie heran?

Oft kommt die Frage: «Kann ich mich anstecken»? «Wie kann ich mich schützen» oder «Sind die Masken, die wir haben wirklich die Richtigen?». Es herrscht schon Verunsicherung mit dieser neuen Erkrankung. Zwar wissen wir, dass sie bei Nicht-Risikopatienten zu 85 Prozent mild verläuft, aber es gibt immer wieder Ausnahmen. Mit den Mitarbeitenden führen wir zunächst ein seelsorgerliches Gespräch, versuchen zu unterstützen und vermitteln gegebenenfalls weiter. An die verschiedenen Dienste, psychiatrisch, personalärztlich, psychologisch oder die klinische Ethik. Es kann ja immer sein, dass jemand vom Klinikpersonal zusätzlich zu der fordernden Arbeit noch persönliche Sorgen hat.

Manchmal beschleicht einen selbst ja auch ein Gefühl des Ungleichgewichts. Sieht man das Spitalpersonal um Leben ringen und den Grossteil der Gesellschaft sich über Langeweile im Home-Office beklagen?

Natürlich hat das Spitalpersonal derzeit eine hohe Anspannung. Dennoch muss man sagen, dass es bei uns auf den Intensivstationen nicht viel hektischer als sonst zu geht. Wir brauchen viel mehr Personal, aber das wurde auch rekrutiert. Es ist bis jetzt ein ruhiges und konzentriertes Arbeiten.  Eindrücklich ist zu sehen, dass das Pflegepersonal gesellschaftlich eine höhere Wertschätzung erfährt, als bis anhin. Hoffen wir, dass dies auch nach der Corona Krise anhält.

Theologin und Pflegefachfrau

Theologin und Pflegefachfrau

Die gelernte Pflegefachfrau und studierte reformierte Theologin ist verheiratet und hat zwei Töchter. Seit Dezember 2018 leitet sie das Team der reformierten Spitalseelsorger am Universitätsspital Zürich. Zuvor war sie Spitalseelsor­gerin und Leiterin des Care Teams am Kantonsspital Graubünden in Chur. Sie ist Präsidentin der Vereinigung der Deutschschweizer Spital-, Heim- und Klinikseelsorgenden. Ihre Schwerpunkte liegen in der Palliative Care und in der Notfallseelsorge.

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