Schwerpunkt 29. November 2024, von Rita Gianelli

Singen für Gott und für das Volk

Gesang

Bruder Martin singt jeden Tag. Singen ist für ihn wie atmen. Es schafft Gottesnähe und Gemeinschaft. 

Bruder Martin ist aufgeregt. Heute muss er als erster Kantor einspringen, nachdem ein Pater krankheitshalber ausfällt. Als Vorsänger gibt er den Ton in den gesungenen Stundengebeten. «Wenn du diesen nicht triffst, dann gerät alles aus den Fugen», sagt er mit ernstem Gesicht. 

Versunken ins Gebet sitzen auf der Empore der prächtigen Klosterkirche in Disentis zwölf Mönche in schwarzen Gewändern, den Habits. Punkt halb sechs in der Früh erhebt sich die Gemeinschaft, Bruder Martin setzt zum Eingangsgesang an: «Herr, verlass mich nicht, bleib mir nicht fern, mein Gott!» Die Mönche verneigen sich. 

Eine Litanei und ein Flehen 

Nun stimmt der Kantor den ersten Satz der für heute bestimmten Psalmen an. Den zweiten übernimmt die eine Chorhälfte, den dritten die andere und so fort. Dieser Wechselgesang ist die Grundlage des klösterlichen Psalmengesanges. 

Anfangs habe ich es nicht verstanden.
Bruder Martin, Kloster Disentis

Wobei das Wort Singen nicht ganz den Ton trifft. Es ist vielmehr auch eine Litanei, ein Rezitieren oder Flehen. «Anfangs habe ich es nicht verstanden», erzählt der Mönch Martin, nachdem das erste von fünf täglichen Chorgebeten beendet ist. 

Aber das Gebet habe eine einfache Logik: Gemeinschaft mit Gott und den Menschen. Das synchrone Singen wirke verbindend. Es verdichte die Geistkraft der Worte. 

«Die Stimme ist mein wichtigstes Instrument», sagt Bruder Martin, während er mit wehendem Habit über die steinernen Klostertreppen zum Frühstücksraum geht. Manchmal singe er einfach ganz für sich allein, weil es ihn «belebt». 

Mit Jackson und Madonna 

Und weil es ihm «aus der Negativspirale» helfe, in die offenbar sogar dieser fröhliche Mönch manchmal gerät. Das Singen gibt ihm das Gefühl von Freiheit. Dieselbe, die er empfand, als er vor 18 Jahren den Habit anzog und seither nicht mehr Martin Diego Hieronymi, sondern Bruder Martin genannt wird. 

Er singt, seit er denken kann. Als Kind holte er einen Preis mit den «Singbuben Unterägeri», später sang er mit den Pfadfindern am Lagerfeuer und im Stiftschor des Klosters Einsiedeln. «Und auch daheim im Kinderzimmer mit Michael Jackson und Madonna.» 

Kürzlich sangen die Frauen mein Lied beim Gemeindenachmittag.
Bruder Martin, Kloster Disentis

Bevor Bruder Martin zur Arbeit im Klostergymnasium geht, hält er auf einer Bank kurz inne und streift einen Rosenkranz vom Handgelenk. «Gegrüsst seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir», singt er leise vor sich hin. 

Viele Texte aus der religiösen Literatur seien vertont worden, sagt er. Nicht aber der deutsche Text des Muttergottes-Gebetes. Also habe er selbst eine Melodie dazu komponiert. «Kürzlich sangen es die Frauen beim Gemeindenachmittag», erzählt Bruder Martin – und singt das Gebet zu Ende.