Schwerpunkt 29. November 2024, von Isabelle Berger

Von der geheimnisvollen Kraft des Singens

Gesang

Manchmal ist ein Konzertbesuch eine Erweckung. Eine persönliche Geschichte über das Feuer der Musik, das Singen des Unsagbaren, Pathos und den Traum von einer Reise. 

Es war in den späten 1990ern, als im Berner Vorort Ostermundigen eine Gruppe junger Leute das Publikum in Massen in die reformierte Ortskirche lockte. The Ostermundigen Jubilation Gospel Choir entstand aus einer Konfirmationsklasse und sang, wie der Name sagt, Gospelmusik. 

Damals war «Sister Act» mit Whoopi Goldberg in der Hauptrolle ein Hit. Eine Nachtclubsängerin wird Zeugin eines Mordes und muss in einem Kloster untertauchen, wo sie den Chor zu künstlerischen Höhenflügen führt. Der Film entfachte ein wahres Gospel-Feuer. 

Mich ergriff eine ungekannte Energie, ein Gefühl der Befreiung, eine Zuversicht, dass Musik ein Weg zum vollkommenen Glück sein müsse.

Ich hatte ihn noch nicht gesehen, als meine Mutter vorschlug, das Konzert zu besuchen. Also ging ich mit und ahnte nicht, dass das der Anfang einer bis heute andauernden Begeisterung für das Singen werden sollte. 

Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Ich sass auf einer Bank an der Seite. Dann ging es los. Die Musik packte mich sofort, die Stimmung in der Kirche war der Wahnsinn. Mich ergriff eine ungekannte Energie, ein Gefühl der Befreiung, eine Zuversicht, dass Musik ein Weg zum vollkommenen Glück sein müsse. 

Eine gesunde Sucht 

Das Video und die CD des Konzerts schaute und hörte ich mir daraufhin unzählige Male an und sang mit. So gut es eben ging, damals, mit elf Jahren, konnte ich noch kein Englisch. In der Folge begann ich immer öfter zu singen. Ich wurde fast süchtig danach. 

Eine gesunde Sucht, wie die Wissenschaft weiss. Zu singen hilft etwa gegen Ängste, verbessert die Atmung, stärkt die Abwehrkräfte, wirkt gar lebensverlängernd. Auch die verbindende Kraft des Singens ist wissenschaftlich erwiesen und Folge des Hormons Oxytocin, das beim gemeinsamen Singen ausgeschüttet wird. Ob jemand gut oder schlecht singt, spielt dabei keine Rolle. 

Ich wollte gut singen. So wie Céline Dion.

Ich wollte gut singen. So wie Céline Dion. Sie war jene Sängerin, die mich in meinen Anfängen sehr beeindruckte und die ich nachzuahmen versuchte. Durch die Ausdruckskraft ihrer Stimme und das Pathos in ihren Interpretationen, das auf mich inzwischen eher kitschig wirkt, erkannte ich die Kraft, die Gesang einem Text verleihen kann. Ich begann auch eigene Lieder zu schreiben. 

Als ich ins Gymnasium kam, war das Singen definitiv mein Ding geworden. Es folgten Jahre mit Unterricht in klassischem und Jazz-Gesang. Neben dem Studium war das Singen meine Hauptbeschäftigung. Ich sang und komponierte fast ständig. Ich entdeckte, dass dem Gesang etwas ganz Besonderes innewohnt. Nämlich die Möglichkeit, mich ganzheitlich auszudrücken, auch Unsagbares zu äussern, meine Gefühle rauszulassen und zu verarbeiten. 

Ich spürte auf geheimnisvolle Weise eine Art Legitimierung meiner Gedanken, wenn ich sie singend ausdrückte. Schmerz etwa wurde greifbar und damit handhabbar. Beim Singen kann mir niemand widersprechen, niemand meine Gefühle in Abrede stellen. 

Aus purer Freude 

Mit dieser Erfahrung bin ich nicht allein. Durch mein Interesse am Gospel beschäftigte ich mich in späteren Jahren mit der Geschichte und der Musik der schwarzen Bevölkerung in den USA. Musik spielte in der Bürgerrechtsbewegung eine grosse Rolle. Protest- und Freiheitslieder halfen den Menschen, ihren kollektiven Gefühlen Ausdruck zu verleihen, und einten sie in ihrem erfolgreichen Kampf für Gerechtigkeit. Sie wurden gehört. 

Singen ist für mich aber vor allem eine grosse Freude. Darum ermuntere ich andere auch immer wieder, einfach nur aus Freude zu singen. Singen können grundsätzlich fast alle Menschen. 

Meinen Mann allerdings habe ich bis jetzt noch nicht überzeugen können. Dafür begleitet er mich auf dem Klavier. Und wir haben einen gemeinsamen Traum: eine Auszeit in den USA, um dort zu lernen, wie man richtig Gospel spielt und singt.