Schwerpunkt 29. November 2024, von Isabelle Berger

«Das gemeinsame Liedgut schafft Identität»

Gesang

Die Theologin und Musikerin Christine Oefele setzt sich dafür ein, dass der Gemeindegesang und das traditionelle Liedgut gepflegt werden. Alte Kirchenlieder brauche es weiterhin.

In der Adventszeit singen viele Menschen Weihnachtslieder. Welches Lied singen Sie am liebsten? 

Christine Oefele: Viele Weihnachtslieder sind mir lieb. Ganz besonders nah ist mir «Ich steh an deiner Krippen hier» von Paul Gerhardt. Der Text richtet sich an das Kind in der Krippe und fasst das Staunen über die Menschwerdung Gottes in berührende Bilder und innige Worte, die ich mir gern leihe, um selbst staunen zu lernen. Dazu kommt noch die wunderschöne Melodie von Johann Sebastian Bach.

Was vermag der Gesang im Gottesdienst, was das Wort nicht kann? 

Wie beim Sprechen geben wir beim Singen Worte von uns. Neben diesem intellektuellen Teil kommt aber beim Singen der körperliche stärker zur Geltung: Es braucht einen gewissen Einsatz, damit der Atem das Instrument zum Klingen bringt. Zudem erzeugt Gesang Atmosphäre und Stimmungen. Die Verkündigung des Evangeliums soll natürlich auch durch das Wort ansprechen, Musik ist jedoch unmittelbarer.

Seit wann singen Christinnen und Christen spirituelle Lieder? 

Seit jeher, schon das Neue Testament bezeugt mehrfach den Gesang von geistlichen Liedern. Aus der frühen Zeit des Christentums hat man aber kaum Aufzeichnungen, was genau gesungen wurde. Aus dem dritten und vierten Jahrhundert ist belegt, dass die Menschen Psalmen sangen. Der Bischof Ambrosius von Mailand (374–397) schuf Hymnen mit neuen Texten. Hymnen spielten aber auch bereits zuvor eine Rolle im Ringen um ein einigendes und christliches Glaubensbekenntnis.

Christine Oefele, 56

Christine Oefele ist ausgebildete Blockflötistin, Musiklehrerin, Chorleiterin und Theologin. Derzeit habilitiert sie am Institut für Neues Testament der Uni Bern und ist Lehrbeauftragte an der Berner Hochschule der Künste für Liturgik und Hymnologie. Ab Januar 2025 wird sie Beauftragte für Liturgie und Musik der Liturgie- und Gesangbuchkonferenz. 

Wie klang der Gesang damals? 

Das wissen wir nicht. Klar ist aber, dass sich schnell das Ideal des einstimmigen, unbegleiteten Gesangs durchsetzte. Der Instrumentalmusik haftete durch ihre Verwendung im Theater, bei Tanz und Saufgelagen ein schlechter Ruf an. Gegen Ende des vierten Jahrhunderts verglich zum Beispiel der Kirchenvater Johannes Chrysostomos den Gesang der Christen mit dem der Engel und jenen im Theater mit dem Grunzen von Schweinen auf dem Misthaufen, der mit sinnlosem Lärm von Schalmeien begleitet sei.

Die reformierten Kirchen haben ihr eigenes Liedgut geschaffen. Was sind seine Besonderheiten? 

Man kann sagen, dass Gemeindegesang und dazu taugliches Liedgut in der Landessprache eine Erfindung der Reformation sind. Im damaligen katholischen Gottesdienst sangen praktisch nur die Kleriker in Latein. Die Reformatoren Luther, Zwingli und Calvin gingen je auf unterschiedliche Weise mit Musik um. Luther ging es darum, die Gemeinde zu beteiligen. Dafür nutzte er die Musik seiner Zeit in ihrer ganzen Bandbreite. Einige seiner Lieder schliessen an katholische Gesänge an. Daneben gibt es unter anderem Lieder im Stil der damaligen Bänkelsänger, von denen manche zuerst in der Öffentlichkeit vorgetragen wurden, bevor sie schliesslich Eingang in den Gottesdienst fanden.

Während sehr langer Zeit war es selbstverständlich, dass die Leute sangen. Heute steht man mit einer gewissen Hilflosigkeit vor der Tatsache, dass dies nicht mehr funktioniert.

Und Zwingli in Zürich? 

Zwingli hat sich viel stärker als Luther von allem Katholischen distanziert, so auch von der Gottesdienstform der Messe, zu der auch Musik gehörte. Er wählte mit dem Predigtgottesdienst eine Form, in der es keinen Gesang gab. Zwinglis Ziel war, dass nichts vom Hören des Wortes ablenkt. In der Deutschschweiz etablierte sich daher der Gemeindegesang erst im Laufe des 16. Jahrhunderts. Der Genfer Reformator Calvin steht zwischen Luther und Zwingli. Er liess Musik im Gottesdienst zu, setzte ihr aber Grenzen: nur einstimmiger Gesang mit «würdigen» Melodien und nur biblische Texte. So entstand das weltweit erfolgreichste Gesangbuch: der Genfer Psalter.

Welche Rolle spielt es heute? 

Bis heute werden die Genfer Psalmen in reformierten Kirchen wetweit gesungen, in vielen nach wie vor einstimmig. Im deutschschweizerischen Reformierten Gesangbuch ist noch stets eine Auswahl der Genfer Psalmen enthalten, daneben findet sich darin punkto Stil, Herkunft und Form ein breites Repertoire. Mit «Rise up plus» kam vor knapp zehn Jahren zudem ein ökumenisches Gesangbuch mit neuerem Liedgut hinzu. In der Schweiz gibt es ausserdem zahlreiche weitere regionale Publikationen mit modernen Liedern, oft mit Texten in Dialekt.

Obwohl Gemeindegesang heute fest zum Gottesdienst gehört, ist dieser zuweilen ziemlich schwach vorhanden. Wie bringt man die Leute zum Singen? 

Bei Beratungen stelle ich häufig fest, wie wenig bewusst manchen Kirchgemeinden ist, dass der Gemeindegesang aktiv gepflegt werden muss. Während sehr langer Zeit war es selbstverständlich, dass die Leute sangen. Heute steht man mit einer gewissen Hilflosigkeit vor der Tatsache, dass dies nicht mehr funktioniert. Da, wo es noch stattfindet, ist die Tradition nie abgebrochen, oder das Singen wird gezielt gefördert. In zahlreichen Kirchgemeinden ist denn auch gar niemand fest für die Kirchenmusik angestellt. Da besteht leider keine Zeit mehr für die Arbeit am Gemeindegesang. 

Mir ist es ein Anliegen, den Glauben nicht noch stär­­ker zu individualisieren, sondern das Singen zu fördern und ein gemeinsames Repertoire zu pflegen.

Für viele Menschen ist das traditionelle Liedgut sehr weit weg. Wie lassen sich neue Zugänge schaffen? 

Ich habe das in schöner Weise bei Johannes Günther gesehen, dem Dirigenten der Berner Kantorei. Er kann die Lieder sehr gut vermitteln. Er gibt oft Hinweise zum Text oder Anregungen, wie man was singt. Zum Beispiel: Steckt darin Wut oder eine Klage? Es soll nicht nur ein Runterleiern sein, vielmehr soll der Gesang Emotionen wiedergeben und einen Bezug zum Text haben. Meine Studentinnen und Studenten lehre ich, dass es ihre Aufgabe ist, dies zu vermitteln. Gemeinde­singleitung ist im Kirchenmusikstudium an der Berner Hochschule der Künste ein fixes Studienfach. Ich animiere die Studierenden jeweils, mit den Pfarrpersonen zusammenzuspannen, damit musikalische und theologische Kompetenz zusammenfinden.

Ist es wichtig, dass alle reformierten Kirchen in der Schweiz dasselbe Gesangbuch haben? 

Es ist wichtig, ein gemeinsames Liedgut zu haben, wenn wir über unseren eigenen kleinen Kontext hinweg als Kirche eine gemeinsame Identität haben und miteinander Gottesdienst feiern wollen. Durch den Traditionsabbruch wird die Zahl der Lieder, die als bekannt vorausgesetzt werden können, immer kleiner. Mir ist es ein Anliegen, Glauben nicht weiter zu individualisieren, sondern das Miteinander-Singen zu fördern und ein gemeinsames Repertoire zu pflegen.

Sie initiierten den Berner Singtag, der letztes Jahr erstmals stattfand. Er soll den Gemeindegesang fördern. Wie lautet Ihre Bilanz? 

Von vielen Teilnehmenden erhielten wir sehr positive Rückmeldungen, meistens verbunden mit der Frage, wann die nächste Durchführung geplant sei. Auch wir vom Organisationskomitee waren sehr zufrieden mit dem Anlass. Auch über die Tatsache, dass einige Hundert Leute der Einladung gefolgt waren. Die Synode hat das Geld für drei weitere Singtage gesprochen.

Welche Initiativen gibt es über die Kantonsgrenzen hinaus? 

Die Lied- und Gesangbuchkonferenz, in der ich mitarbeite, hat das schweizweite Projekt «Enchanté» zur Förderung des Gemeindegesangs lanciert, statt ein neues Kirchengesangbuch in Angriff zu nehmen. Es bietet einen guten Rahmen, um immer wieder Singtage durchzuführen. So wird das Singen erlebbar, und wir können das Feuer weitergeben.