Maikäferjahr, schöne Post und Pflichten als Galöri

Kindermund

Bignas Mama findet, dass auch sie ein Galöri ist, wie ihr anderswo lebender Vater. «Deshalb darf ich nicht immer halten, was ich verspreche, sonst wäre ich keiner», findet Bigna.

Als ich heute im Garten sass und schrieb, kam Bigna mit einem kleinen Eimer vorbei. «Wenn du willst, sammle ich dir die Mai­käfer von den Bäumen», sagte sie, «pro Eimer fünf Franken.» Wir haben ein Maikäferjahr. «Vielleicht später», antwortete ich, «erst müssen wir Post beantworten. Setz dich her.»

Dann las ich ihr vor: «Sehr ge­ehrter Herr K., Ihre Kolumne lese ich meist mit einem Schmunzeln. Es wäre aber hilfreich, wenn man wüsste, wie alt Bigna ist, denn es macht einen Unterschied, ob 5- oder 15-jährig. Ich bitte um Aufklärung. Mit freundlichen Grüssen an Vater und Tochter, E. W.» Bigna kicherte: «Weisst du noch die Frau, die nicht gemerkt hat, dass ich ein Kind bin, und dach­te, ich bin ün pa our d’clocca? Wie heisst das auf Deutsch?» «Plemplem. Aber jetzt sag, was soll ich ihm antworten?»

«Oh, ganz viel», rief sie, «zuerst, dass ich nicht deine Tochter bin, weil ihr nämlich eigene Mädchen habt, die Angiolina und Cilgia heissen. Meine Mama heisst nicht Renata, sondern Chatrina und arbeitet in der Weberei. Mein Papa ist auch nicht Schriftsteller, ziemlich sicher arbeitet er überhaupt nichts, weil er nämlich ein Valanöglia und Magliamoc ist, was auf Hochdeutsch Nichtsnutz heisst und auf Schweizerdeutsch Galöri. Aber genau weiss ich es nicht, weil er nicht mehr bei uns lebt.» «Moment, so schnell kann ich gar nicht tippen.»

Bigna wartete gnädig eine Se­kunde.

«Dann musst du ihm schreiben, dass er nicht fragen müsste, ob ich ein Kind bin, wenn nicht nur von dir ein Bild in der Zeitung wäre, sondern auch von mir, dass das aber nicht geht, weil das Bild schon da war, bevor du ange­fangen hast zu schreiben, und du musstest mich ja erst erfinden. Am Anfang war ich wie alt?» «Vier, fast fünf.» «Und jetzt bin ich fast sieben. Schreib ihm, nächste Woche habe ich Geburtstag, und wenn er mir etwas schenken will, soll er es ans Postfach 725 in Santa Maria Val Müstair schi­cken. Ich schicke ihm dann auch was Kleines zurück. Oder vielleicht nicht. Weil Mama findet, dass ich auch ein Galöri bin. Und deshalb darf ich nicht immer halten, was ich verspreche, sonst wäre ich keiner.»

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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