Zu heiss für halbwegs vernünftige Gedanken

Kindermund

Neue Erkenntnisse zum Huhn und zum Ei – und Bigna findet auch: «Sag denen auf der Redaktion, du brauchst auch mal frei. Sind Ferien nicht ein Menschenrecht?» Offenbar schon.

Es war zu heiss, um irgendwas zu tun. Von der Val Mora strich ein kühles Lüftchen durchs Tal, doch unser Garten liegt windgeschützt zwischen alten Ställen und Bienenhäuschen. Deren mit den Jahrhunderten schwarz gebranntes Holz knackte unter der Hitze, die Hühner verkrochen sich unter der Holzbühne und wirbelten Staub auf. Bigna rannte eine Weile mit den anderen unterm Sprinkler hin und her, dann warf das Kind sich in den Liegestuhl und seufzte: «Sardellen.» «Was ist mit Sardellen?» «Ich habe solche Lust auf Sardellen.» «Lässt sich machen. Sardellen womit?»

«Egal. Am liebsten mit Meer, Schiffssirenen, schreienden Möwen. Und Eis, jeder Menge Eis.» «Sardellen mit Eis?» «Meinetwegen. Aber lieber erst Sardellen, dann Eis. Wie halten die im Unterland bloss die Hitze aus?» «Gar nicht. Die Alpennordseite ertrinkt gerade im Regen.» Ich erhob mich. «Dann lieber heiss. Wohin gehst du?» «Einkaufen: Sardellen, Eier, Kartoffeln, Bohnen. Es gibt Salade niçoise.»

«Musst du nicht unsere Kolumne schreiben?» «Was heisst hier unsere? Es ist immer noch meine. Du bist nur meine Fantasie.» «Nur? Na hör mal! Ohne Fantasie wärst du ein Nichts, ein Würmchen, Futter für die Hühner.» Ich lachte. «Ich habe mich schlecht ausgedrückt: Du bist nicht meine Fantasie nur ein Produkt meiner Fantasie.» Bigna dachte nach und nickte. «Stimmt, wie das Huhn und das Ei. Aber heute gibt es Eier, nicht Hühnchen. Also ist das Ei wichtiger als das Huhn.» «Heute ja, aber morgen gibt es ohne Huhn auch kein Ei.» Bigna kicherte. «Und übermorgen ohne Ei kein Huhn.»

Ich stöhnte: «Du wirst mir allmählich zu spitzfindig.» «Ich werde eben älter.» «Aber die Kolumne heisst ‹Kindermund›. Du verlierst deine Unschuld, mein Herzblatt.» «Willst du mich loswerden? Versuch das mal!» «Ich denke nicht daran. Doch worüber soll ich nun schreiben?» «Gar nicht. Sag denen auf der Redaktion, du brauchst auch mal frei. Sind Ferien nicht ein Menschenrecht?» Ich googelte. «Doch, Artikel 24.» Bigna nickte befriedigt. «Wusst ichs doch. Die Sardellen bitte im Glas, das ploppt so schön. Und vergiss ja das Eis nicht.»

Tim Krohn

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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