«Europa versagt»: So lautet der Titel Ihres Buches über die aktuelle Flüchtlingspolitik. Warum ziehen Sie ein derart vernichtendes Fazit?
Gesine Schwan: Die Mitgliedstaaten der EU behaupten, sie hätten einen Konsens über die Grundwerte, auf denen ihre Politik fusst, und bekennen sich zu demokratischen Prinzipien. Mit diesen Werten und sogar mit dem Völkerrecht brechen sie jedoch in der Flüchtlingspolitik. Flüchtlinge werden an den Grenzen zurückgestossen, ohne dass sie ein Asylgesuch stellen können, überfüllte Boote zurück auf hohe See gedrängt. Ein solcher Widerspruch zwischen der normativen Grundlage, die angeblich gilt, und der Realität kann mit der Zeit eine explosive Dynamik entwickeln.
Was droht zu explodieren?
Die Widersprüche in der Flüchtlingspolitik drohen die Europäische Gemeinschaft zu zerstören. Wenn sie im Umgang mit Drittstaaten gegen ihre eigenen Werte verstösst, halten sich die Mitgliedstaaten mit der Zeit auch untereinander nicht mehr an die Spielregeln.
Im September 2020 stand das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos in Flammen. Europas Regierungen versprachen, die Lage an den Aussengrenzen zu verbessern. Inzwischen gibt es wieder Lager, die Gefängnissen ähneln. Warum hat die Katastrophe nichts bewirkt?
Weil die europäischen Regierungen das Ziel, gemeinsame Beschlüsse zu fällen, über alles stellen. Sie suchen den kleinsten gemeinsamen Nenner mit Ungarn oder Polen. Die Gemeinsamkeit erschöpft sich im teuren Schutz der Aussengrenzen und der Abwehr von Flüchtlingen.