Am frühen Morgen des 24. August wurden die zuständigen Behörden sowie die «Sea-Watch 4» von der Organisation Alarmphone über einen Seenotfall mit rund 100 Menschen etwa 50 Seemeilen vor der libyschen Küste informiert. Das Schlauchboot wurde am frühen Morgen von dem Öltanker VOS Triton entdeckt. Kurz darauf erreichte das Rettungsschiff «Louise Michel» das Schlauchboot, versorgte die Menschen mit Rettungswesten und beobachtete den Zustand des Bootes bis zur Ankunft der «Sea-Watch 4», die sowohl für die Bergung als auch für die medizinische Versorgung der Menschen besser ausgerüstet ist.

«Sea-Watch 4» sucht mit rund 200 Geretten nun sicheren Hafen
Innerhalb von 48 Stunden hat die Crew der «Sea -Watch 4» in drei Rettungen über 200 Menschen aus dem Meer geborgen. Ein sicherer Hafen ist nun angefragt.
Die Geretteten wird Fieber gemessen, um eine mögliche Corona-Infektion auszuschliessen. (Foto: epd/ Thomas Lohnes)

Rettung bei hohem Wellengang. (Foto: epd/Thomas Lohnes)
Trotz hohen Wellengangs konnten die Schnellboote der «Sea-Watch 4» die ausschliesslich jungen Männer bergen. Ihr Zustand war nach zwei Tagen des Treibens auf offenem Meer schwach, teilweise orientierungslos. Einige zeigten Symptome starker Belastung durch Benzindämpfe. Das Team von «Ärzte ohne Grenzen» entschied bei fast allen Personen Notfallduschen zu machen und sie aus der Benzin-getränkten Kleidung zu befreien. Seekrankheit, Dehydrierung, Unterkühlung werden weiterhin behandelt, und die Geretteten werden rund um die Uhr beobachtet.
Rund 200 Gerettete befinden sich an Bord der «Sea-Watch 4». (Foto: epd/Thomas Lohnes)
Kirchliches Engagement
Die Idee eines kirchlichen Seenotrettungsschiffs im Mittelmeer geht auf den evangelischen Kirchentag in Dortmund 2019 zurück. Finanziert wurde es vom Bündnis «United4Rescue». Im Januar 2020 ersteigerte das Bündnis das Schiff für 1,3 Millionen Euro, darunter 1,1 Millionen Euro Spendengelder des Bündnisses, dem mittlerweile über 500 Organisationen und Unternehmen angehören.Die Evangelische Kirche Deutschland hatte zu Spenden für das Schiff aufgerufen, bei denen sich auch die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz und die Schweizer Bischofskonferenz beteiligten. Das ehemalige Forschungsschiff war am 20. Februar in Kiel getauft worden. Nach den ursprünglichen Plänen sollte das Schiff schon zu Ostern in See stechen. Dann machten aber die Einschränkungen wegen der Corona-Epidemie dem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung.Die «Sea-Watch 4» kann etwa 300 Flüchtlinge an Bord unterbringen. Bei akuten Notfällen können es für kurze Zeit aber auch bis zu 900 sein. 26 feste und ehrenamtliche Mitarbeiter aus mehreren europäischen Ländern sind auf den jeweils vierwöchigen Einsätzen dabei. Es wird auf dem Schiff unter anderem einen Schutzbereich mit 24 Betten speziell für Frauen und Kinder geben und eine Krankenstation, die zwei Behandlungsplätze umfasst.
Die dritte Rettungsaktion war für die ganze Crew enorm anspruchsvoll. Der hohe Wellengang und die Notwendigkeit, dass fast alle 100 Geretteten abgeduscht, in Rettungsdecken gehüllt, registriert und auf dem Deck platziert werden mussten, forderte nochmal höchsten Einsatz von der Crew. Auch ich persönlich war gefordert, half beim Abduschen, Abtrocknen der Geretteten und schlang - ich weiss nicht wie viele - Notfalldecken um ihre Körper.
Noch am Abend davor hatte ich bis 24 Uhr Aufsicht an Deck und wurde bereits um 4.30 Uhr des nächsten Morgens geweckt, weil wir direkt vor uns einen weiteren Seenotfall hatten. Auf der Brücke entschieden Kapitän und Crew, noch in der Dunkelheit die Schnellboote ins Wasser zu lassen und trotz enormen Wellengangs (in der Nacht hatte es Windstärke 5) die Menschen zu bergen. Mein Fotografenkollege erzählte mir, was für eine überragende Leistung die Fahrer der Schnellboote hingelegt hatten. X-mal fuhren sie hin und her, um die Menschen an Bord der «Sea-Watch 4» zu bringen.
Die Geretteten werden an Bord abgeduscht, da viele auf dem Rettungsboot mit Benzindämpfen in Kontakt kamen. (Foto: epd/Thomas Lohnes)
Die vielen Menschen aus fernen Ländern, der Geruch nach Benzin, die Anspannung im Rettungsprozess: Es war hart. Zu der Rettung kommen derzeit ja noch die Covid-19-Massnahmen, die uns zwingen, mit Maske, Overall, Rettungswesten, schweren Schuhen in der Sommerhitze zu arbeiten. Jedes Mal, wenn wir von Deck, auf dem die Geretteten dicht an dicht sitzen, zurückkommen, müssen wir unsere gesamte Kleidung in einem Extraraum lassen und uns ordentlich desinfizieren.
Ein Sudanese, der jetzt bei uns an Bord ist, erzählte mir, dass er seit Februar dieses Jahres unterwegs sei. Die Flüchtenden durchqueren mit Jeeps die Sahara. Nur die Hälfte überlebt das. Dann geht es nach Libyen, für die meisten unter ihnen ein Land des Schreckens mit Folter und Gewalt. Dort können sie von organisierten kriminellen Schlepperbanden einen Platz in einem Gummiboot für 1.000 US-Dollar kaufen, ohne Gewissheit zu haben, jemals über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Zögert jemand kurz vor der Abfahrt, auf das Boot zu steigen, wird er erschossen. Denn er hat das Gesicht des Schleppers dann bereits gesehen. Jemand von der Crew erzählt mir, dass einige Libyer sogar zweigleisig fahren. Einerseits sind sie Schlepper und Menschenhändler, und andererseits patrouillieren sie für die libysche Küstenwache. Aufgrund dieser Verhältnisse spricht der Verein «Sea Watch» von der «sogenannten» libyschen Küstenwache.
Der dritte Rettungseinsatz der «Sea-Watch 4» vor der lybischen Küste. (Foto: epd/Thomas Lohnes)
Die Männer des dritten Bootes kamen ohne etwas. Ihre SIM-Karten mit ein paar Kontakten haben sie im Bund ihrer Unterhosen versteckt. Sie liegen von Seekrankheit gebeutelt am Boden. Eine Mutter höre ich ihrem Kind eine bekannte Melodie singen - bei uns untermalt sie das Lied «Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp». Nur dass sie das nicht in irgendeinem Kinderzimmer singt, sondern auf einem Schiff, das inzwischen wie ein Flüchtlingslager auf dem Meer aussieht. Zu essen gibt es Couscous und Reis, mal mit Tomaten, mal mit Bohnen. Schwarze Jogginghosen, ein Beutel mit Zahnpasta, und -bürste und ein Duschgel sind die neuen Habseligkeiten der Geretteten. Auch eine Schwangere haben wir an Bord.
Blog Seenotizen
Im August 2020 läuft das mit kirchlichen Spenden finanzierte Seenotrettungsschiff «Sea-Watch 4» zu seiner ersten Mission aus. Die «reformiert.»-Redaktorin Constanze Broelemann ist für reformiert.info und evangelisch.de an Bord und berichtet vom Schiff in ihrem Blog «Seenotizen».
Draussen ist Windstärke 5. Zum Glück ist die «Sea-Watch 4» ein auf Stabilität ausgelegtes Schiff, sagt man mir. Sonst wäre wohl noch die halbe Crew zusätzlich seekrank. Langsam aber sicher nehmen wir Kurs gen Norden. Wir haben viele Menschen an Bord. Die «Sea-Watch 4» kann nicht zu schnell fahren, damit kein Wasser an Deck schwappt und die Geretteten nicht zu sehr durchgeschüttelt werden. Aber es eilt ja eh nicht so: ein «place of safety» - ein sicherer Hafen ist bereits zwei Mal angefragt worden. «Aber das dauert», weiss man hier aus Erfahrung. Und so versuchen wir alle gemeinsam mit dieser Extremsituation auszukommen. Sollte die Stimmung im Keller sein, werden Trommeln verteilt. Ein paar Gesänge und Gebete der neuen Gäste konnte ich schon vernehmen.
Cisse Amirata mit Baby Ali (1,5 Jahre) von der Elfenbeinküste wurde am 24.08.2020 gerettet. (Foto: epd/ Thomas Lohnes)
Sea Watch
Sea Watch e.V. ist eine Non-Profit-Organisation, die zivile Such- und Rettungseinsätze im europäischen Mittelmeer durchführt. Der Verein fordert und forciert Rettung von Menschen durch staatliche europäische Institutionen. Sea Watch will sichere und legale Fluchtwege (#SafePassage) und Bewegungsfreiheit in offenen europäischen Gesellschaften, die sich zur Solidarität bekennen. Finanziert wird die Arbeit des Vereins ausschliesslich durch Spenden.
«Sea-Watch 4» rettet knapp 100 Menschen

Teenager evakuiert
Am 26. August wurde ein geretteter junger Mann von der «Sea-Watch 4» evakuiert. Sein schlechter Gesundheitszustand aufgrund von Verbrennungen durch Benzin konnten auf dem Rettungsschiff nicht behandelt werden.